Vergessene Jugend

Frankreichs Vorstädte als Nährboden für Islamisten

Ausland
20.01.2015 06:06
Seit den islamistischen Anschlägen blickt Frankreich sorgenvoll auf seine Jugend in den Problem-Vorstädten von Paris, Lyon oder Marseille. "Für sie ist die Republik ein Trugbild", sagt Mohamed Tria, der selbst in der Lyon-Vorstadt La Duchère aufwuchs und sich dort heute um Jugendliche kümmert. Viele junge Leute würden die Attentäter demnach "bewundern": "Sie finden, sie sind ihnen ähnlich."

Fast fünf Millionen Menschen leben in Frankreich in solchen sozialen Brennpunkten, in rund 700 Gemeinden mit etwa 1.300 als "prioritär" eingestuften Vierteln. Seit den Anschlägen hat sich die Stimmung dort zugespitzt: Die einen unterstützen offen das islamistische Gedankengut, die anderen befürchten, als Muslime stigmatisiert zu werden. Alle aber haben dieselben Probleme, die den Nährboden für extremistisches Gedankengut bilden: extrem hohe Arbeitslosigkeit, schlechtes Bildungsniveau, miserable Infrastruktur, Gewalt und Kriminalität.

Diese Probleme sind altbekannt, seit 30 Jahren werden in Frankreich schon Aktionspläne aufgelegt, um die Vorstädte umzukrempeln. Neu ist aber, dass religiöse Extremisten an Terrain gewinnen, weil sie den perspektivlosen jungen Leuten ein Angebot machen.

"Die Leute fühlen sich im Stich gelassen"
"Wir sind so nah an Paris und so weit weg von allem", bringt etwa Issa in Clichy-sous-Bois die Stimmung auf den Punkt. In der Stadt rund 15 Kilometer östlich von Paris war es bereits 2005 zu solch gewaltsamen Krawallen gekommen, dass die Regierung den Ausnahmezustand ausrufen musste. Mit Programmen zur städtischen Renovierung wurde darauf reagiert. Aber Zouzou, Mutter von fünf Kindern, hält das für einen "totalen Misserfolg": "Die Leute fühlen sich im Stich gelassen."

Eine groß angelegte Studie vom Institut Montaigne aus dem Jahr 2011 ergab, dass in Clichy über 60 Prozent der Haushalte zu wenig Einkommen hatten, um Steuern zu bezahlen. Der Ausländeranteil lag mit 33 Prozent rund dreimal höher als im Großraum Paris, 76 Prozent der Minderjährigen hatten mindestens einen im Ausland geborenen Elternteil. Die mehrheitlich muslimischen Einwohner kapselten sich demnach auch stärker ab. Wie in anderen Problemvierteln ist die Arbeitslosigkeit dort deutlich höher, unter Jugendlichen erreicht sie in manchen Vorstädten Frankreichs über 40 Prozent.

Regierung will Schulen stärken
Die sozialistische Regierung will nun vor allem die Schulen stärken, die Werte wie Toleranz und Gleichheit besser vermitteln sollen. Mohamed Tria hält der Politik aber vor, genau das jahrelang vernachlässigt zu haben: "Da man ihnen nicht mehr unsere Werte beibringt, nehmen andere diesen Platz ein. Die religiöse Radikalisierung ist eine Konsequenz daraus. Das ist eine geschlossene Welt."

Auch die Bürgermeister von rund 120 französischen Vorstädten schlagen gemeinsam Alarm: Manche Viertel seien "am Kippen". Die Vorstadtjugend brauche erhöhte Aufmerksamkeit - bei Jobs, Wohnungen, Armut, Städtebau, Bildung. Die Regierung hatte - wegen der Sparzwänge - die Gelder für die Gebietskörperschaften allein in diesem Jahr um elf Milliarden Euro gekürzt.

"Eine gleichgültige Masse"
Der Geschichtslehrer Yannis Roder in der Vorstadt Saint-Denis im Norden von Paris verlangt, dass "nichts mehr unter den Teppich gekehrt wird". Bei der Schweigeminute für die 17 Todesopfer der Anschlagsserie vor rund zehn Tagen, die landesweit in rund 100 Schulen gestört wurde, habe nur "eine Minderheit" die Attacken klar verurteilt. "Eine Minderheit der Schüler zeigte Genugtuung" über die Anschläge - und dazwischen: "eine gleichgültige Masse".

Nicht nur nach Ansicht von Tria, der Präsident des Fußballvereins von La Duchere ist, muss "dringend" etwas passieren. Es müssten die "gerettet" werden, bei denen es noch möglich sei: "Denn als ich diesen Burschen zuhörte, sagte ich mir: Wie werden wohl ihre Kinder sein?"

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