Kurden im Visier
Erdogan gegen die PKK: Die Türkei im Aufruhr
Dutzende Nationalisten marschierten in Ankara zum HDP-Sitz, warfen Steine und rissen das Parteizeichen an dem Gebäude ab. "Unsere Zentrale wird angegriffen, aber die Polizei erfüllt nicht ihre Pflicht", teilte die HDP mit. Über dem Parteibüro stieg Rauch auf, die Räumlichkeiten wurden bei dem Angriff schwer verwüstet. Der Sender CNN-Türk berichtete zudem, dass in der südtürkischen Stadt Alanya der örtliche HDP-Sitz in Brand gesetzt worden sei. Auch in mindestens sechs anderen Städten seien HDP-Büros von Demonstranten beschädigt worden.
Nationalisten, die mittlerweile fast täglich in den großen Städten wie Istanbul demonstrieren, werfen der Partei vor, der politische Arm der PKK zu sein. Seit dem Ende der Waffenruhe zwischen der Regierung und den von ihr als "Terroristen" bezeichneten PKK-Kämpfern Ende Juli liefern sich Sicherheitskräfte und die Rebellen täglich Gefechte. Die Regierung bombardiert zudem Einrichtungen der PKK im benachbarten Nordirak. Als Reaktion darauf verübt diese Anschläge auf Polizisten und Soldaten.
So geriet am Sonntag ein Militärkonvoi in Daglica in der Provinz Hakkari in eine Sprengfalle. Anschließend lieferten sich kurdische Rebellen schwere Gefechte mit den Sicherheitskräften. Dabei starben nach Angaben des türkischen Militärs 16 Soldaten. Daraufhin flog die türkische Luftwaffe Angriffe gegen vermutete PKK-Stellungen. Am Dienstag wurden dann bei einem Anschlag auf einen Kleinbus mit Polizisten in der Provinz Igdir im Osten 14 Polizisten getötet, was den Einmarsch türkischer Spezialeinheiten im Nordirak zur Folge hatte.
Attacken auf Kurden erreichen gefährliches Ausmaß
Das nationalistische Lager ist empört über Dutzende türkische "Märtyrer". Der aufgestachelte Mob geht nun offenbar in Selbstjustiz gegen Kurden vor. Insgesamt 128 HDP-Parteibüros seien seit Sonntag attackiert worden, laut der kurdischen Nachrichtenagentur Dicle Haber Ajansi werde regelrecht Jagd auf Kurden gemacht. Beobachter berichten von Anhängern der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan als Rädelsführer. Zudem würden Übergriffe durch Mitglieder der rassistischen "Grauen Wölfe" erfolgen, die der rechtsnationalen Partei MHP nahestehen.
Insider: Chaos-Plan von Erdogan läuft aus dem Ruder
Der Whistleblower Fuat Avni, ein Insider in den Regierungsrängen, der bis heute nicht enttarnt wurde, verlautbarte per Twitter, das Blutbad in Daglica am Sonntag habe sich als Albtraum für den Präsidenten entpuppt. Erdogans Plan, Chaos zu säen - dieser soll nach dem AKP-Debakel und dem HDP-Erfolg bei den Wahlen im Juni entstanden sein -, sei mit Daglica aus dem Ruder gelaufen. Laut dem Insider verfolge die AKP das Ziel, durch das Neuauflammen des Konfliktes mit der PKK die Regierungspartei als stärkste Kraft zurück an die Macht zu dirigieren.
Vor den Wahlen hatte alles noch ganz anders ausgesehen. Der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan erklärte im März den bewaffneten Kampf für beendet. Die PKK hatte sich seit Beginn der Verhandlungen mit der Regierung im Herbst 2012 an das Waffenstillstandsabkommen gehalten und mehrmals erklärt, ihre Waffen abgeben zu wollen. Die militante Rebellenorganisation hatte sich zudem im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat Lorbeeren von westlichen Staaten eingehandelt, auch wenn sie weiterhin auf der Terrorliste der USA und der Europäer blieb.
Aber die Verhandlungen für eine friedliche Beilegung des Konflikts gerieten ins Stocken, die PKK-Führung wurde langsam ungeduldig - die türkische Regierung hatte ihrer Ansicht nach die Abmachungen nicht erfüllt. Der Friedensprozess stand immer wieder an der Kippe. Der lange, im Vorjahr geführte Kampf um die syrische Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei, die vom IS belagert und großteils in Schutt und Asche gelegt wurde, verhärtete die Fronten weiter. Im Spätherbst 2014 machte Erdogan deutlich, dass für ihn zwischen PKK und IS kein Unterschied bestehe.
Prokurdische HDP machte Erdogans Pläne zunichte
Bei der Parlamentswahl am 7. Juni gelang der prokurdischen HDP als Partei schließlich nicht nur erstmals der Einzug ins Parlament über die Zehn-Prozent-Hürde. Mit ihren 80 Abgeordneten schwächte sie außerdem die AKP empfindlich und machte Erdogans Pläne zunichte, mithilfe einer Zweidrittelmehrheit ein Präsidialsystem einzuführen. Die HDP präsentierte sich als neue liberale Kraft in der Türkei und erhielt nicht nur von den Kurden starken Zulauf, sondern auch von urbanen, linksorientierten Wählern und Minderheiten. Das Wahlergebnis galt außerdem als klare Absage der Türken an die Ambitionen ihres Staatschefs.
Anschlag im Südosten brachte Fass zum Überlaufen
Nach dem Wahlerfolg der HPD bestand die Waffenruhe der Türkei mit der PKK nicht einmal mehr am Papier. Aber erst mit einem blutigen Anschlag am 20. Juli in der südosttürkischen Stadt Suruc, der dem IS zugeschrieben wurde, ist sie endgültig zerbrochen. Die PKK erschoss zwei Polizisten in der Provinz Sanliurfa, als Rache für deren angebliche Zusammenarbeit mit der Terrormiliz. Über die tatsächlichen Drahtzieher des Suruc-Attentats herrscht weiterhin Unklarheit. Es gilt eine Nachrichtensperre, die HDP vermutet den "tiefen Staat" hinter dem Anschlag.
Kurz darauf startete die türkische Armee jedenfalls eine Doppeloffensive gegen die IS-Miliz sowie die PKK. Bisher richteten sich die Luftangriffe aber so gut wie ausschließlich gegen PKK-Stellungen im Südosten der Türkei und im Nordirak. Laut Staatsmedien wurden dabei rund 800 kurdische Rebellen getötet. Die PKK wiederum greift seither landesweit Armee- und Polizeiposten an, türkischen Angaben zufolge wurden dabei seit dem 20. Juli mehr als 100 Sicherheitskräfte getötet.
Neuwahlen am 1. November als Richtungsentscheidung
Nun erfolgt am 1. November die Neuwahl des Parlaments. Auf politischer Ebene setzt die AKP ihre Strategie fort, die HDP als verlängerten Arm der PKK zu stilisieren. Umfragen zufolge würde das Ergebnis für die AKP aber wieder ähnlich ausfallen wie im Juni. Der im Osten und Südosten des Landes verhängte Ausnahmezustand soll Erdogan zufolge "den freien Willen des Wählervolkes" garantieren. Wahrscheinlicher ist, dass Ausgangssperren und Militärpräsenz vielen HDP-Wählern den Weg zur Urne verbarrikadieren. Sollte die HDP im künftigen Parlament nicht mehr vertreten sein, hätte dies wohl unabsehbare Folgen für die Stabilität und den sozialen Frieden in der Türkei.
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