Nach 14 Jahren frei
Guantanamo-Häftling über Folter, Prügel und Islam
Der vierfache Familienvater saß fast 14 Jahre lang ohne Anklage im berüchtigten US-Militärgefängnis Guantanamo auf Kuba in Haft. Jetzt hat der heute 46 Jahre alte britische Staatsbürger Shaker Aamer, der Ende Oktober freigelassen wurde, in einem Interview erstmals öffentlich über sein Martyrium als Häftling Nummer 239 gesprochen. Und der gebürtige Saudi-Araber empfiehlt Dschihadisten, schnellstmöglich aus Großbritannien zu verschwinden. Muslime, die den Terror des Islamischen Staats oder anderer Gruppierungen unterstützen würden, hätten in Großbritannien nichts verloren, stellt er klar.
Der schier unvorstellbare Leidensweg von Shaker Aamer begann mit einer Geschäftsreise im Sommer 2001. Rund zwei Monate vor den Terroranschlägen vom 11. September reiste der Brite nach Afghanistan, in der Hoffnung, dort Geschäfte anbahnen zu können. In London, wo seine Ehefrau mit dem vierten gemeinsamen Kind schwanger war, sei es für die Familie damals finanziell eng gewesen, begründet Aamer seine Reise. Am Hindukusch wollte er unter anderem ein Wasserprojekt und eine Schule mit gemischten Klassen auf die Beine stellen.
Doch nach 9/11 gerieten Araber im Zuge des von den USA ausgerufenen "Kriegs gegen den Terrorismus" ins Visier der Terrorjäger. Aamer fiel afghanischen Kopfgeldjägern in die Hände, die ihn im Dezember 2001 an US-Soldaten weiterverkauften. Solche Deals seien kein Einzelfall gewesen, wie die britische "Daily Mail" berichtete. Rund 80 Prozent der Guantanamo-Häftlinge hätten die Amerikaner demnach von Kopfgeldjägern gekauft. Für Araber wie Aamer soll es besonders gute Preise gegeben haben.
Wie aus einem Menschen eine Nummer wird
Im Februar 2002 wurde Aamer dann nach Guantanamo Bay ausgeflogen. Er wurde verdächtigt, in London für die Terrororganisation Al-Kaida Kämpfer zu rekrutieren und Geld gesammelt zu haben. Damit nicht genug, warf man ihm damals vor, ein Vertrauter von Al-Kaida-Chef Osama bin Laden zu sein. In dem Internierungslager auf Kuba wurde aus dem Menschen mit dem Namen Shaker Aamer angesichts dieser Anschuldigungen eine Nummer.
Während seine vier Kinder - der jüngste Sohn kam am Tag von Aamers Ankunft auf Kuba auf die Welt - in London ohne Vater aufwuchsen, musste er als Gefangenennummer 239 ohne rechtsstaatliches Verfahren knapp eineinhalb Jahrzehnte ein Leben in ständiger Angst führen. Sein Martyrium sollte selbst dann noch jahrelang andauern, als er offiziell bereits als ungefährlich eingestuft wurde. Obwohl die US-Behörden 2007 zugaben, dass keine Beweise gegen Aamer vorlagen, blieb er bis Oktober 2015 in dem Lager für Terrorverdächtige. Ab 2009 war er der letzte dort inhaftierte britische Staatsbürger.
"Alles kann passieren, wirklich alles"
Was Aamer nun, knapp zwei Monate nach seiner Freilassung, über seine Zeit in Haft erzählt, ist erschütternd. Sobald man in seiner Zelle das Geräusch der schweren Armeestiefel näherkommen hörte, stieg Panik in einem auf, schildert der 46-Jährige der "Daily Mail" in einem ausführlichen Interview seine Torturen durch das "Forcible Cell Extraction Team" (FCE), das er als Schlägertrupp bezeichnet. "Du weißt, dass du verletzt werden kannst. Das sind große Typen, muskelbepackt. Du kannst gelähmt werden. Alles kann passieren, wirklich alles."
Während seiner 14 Jahre dauernden Gefangenschaft sei er mehrere Hundert, vielleicht Tausende Male in den "Genuss" der FCE-Behandlung gekommen, so Aamer. Allein 2012 sei er ganze 370-mal von den Soldaten malträtiert worden. Eine Begegnung mit der Schlägertruppe blieb ihm dabei besonders in Erinnerung: "Ich saß auf dem Bett, als sie die Tür öffneten, und der Kommandant schrie: 'Runter auf dein Gesicht, 239, widersetze dich nicht!'"
Aber, wie üblich, wollte sich Aamer eigenen Worten zufolge nicht hinlegen, "weil die Zellen so winzig sind, dass dein Gesicht in dem Loch steckt, das als Toilette dient", wie er der Zeitung sagte. Weil er sich weigerte, zwangen die Soldaten ihn mit ihren Schutzschildern auf den Boden. "Sie heben dich hoch und drücken ihre Schilder an dich, sodass du wie ein Stück Fleisch in einem Sandwich bist. Und während dieser Zeit schreien sie immer wieder ein einzelnes Kommando: 'Hör auf, Widerstand zu leisten.' Ich habe keinerlei Widerstand geleistet, wie hätte ich auch?"
Einsätze gegen Häftlinge wurden mitgefilmt
Hintergrund der mehrmals wiederholten Aufforderung der Soldaten, den Widerstand aufzugeben, sei Aamer zufolge, dass alle Einsätze des FCE-Teams auf Video aufgezeichnet werden müssen. Weil die Soldaten mit ihrer Schreierei vortäuschten, die Insassen würden sich zur Wehr setzen, hatten sie keinerlei Konsequenzen zu befürchten, wenn sie die Häftlinge vor laufender Kamera verprügelten, ist der Brite überzeugt.
Der Auslöser für den Einsatz in Aamers Zelle an jenem Tag war nicht etwa eine verbotene Ware oder gar eine Waffe, sondern der Stiel eines Apfels. Zum Essen hatte es für die Gefangenen auch einen Apfel gegeben und Aamer hatte den Stiel als Zahnstocher behalten. "Natürlich konnte es nicht sein, dass ich so etwas haben durfte", berichtete der Brite, der während seiner Haft immer wieder mit kleinen "Ungehorsamkeiten", wie eben dem Apfelstiel, auffiel. Sein Widerstand, ist er heute überzeugt, habe seine Haftzeit vermutlich verlängert. Zugleich habe er Aktionen wie jener mit dem Apfelstiel aber sein Überleben zu verdanken: Sonst, ist er sicher, hätte er auf Kuba den Verstand verloren.
"Guantanamo wurde errichtet, um Menschen zu zerstören"
"Guantanamo wurde aus einem einzigen Grund errichtet: um Menschen zu zerstören. Es gab tatsächlich ein Schild an der Wand, auf dem 'Rodeo Range' stand", so Aamer. "Beim Rodeo werden Pferde gebrochen, in Guantanamo haben sie das Gleiche mit Menschen gemacht." Vor allem die unzähligen Verhöre, die in dem Lager "Termine" genannt wurden, seien meist von Folter begeleitet worden, so der 46-Jährige. Seinen Angaben zufolge sei bei einem besonders schlimmen Verhör in einer US-Luftwaffenbasis in Afghanistan vor seiner Verlegung nach Kuba auch ein britischer Geheimdienstoffizier anwesend gewesen.
Schlafentzug, in einem Raum bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt bis zu 36 Stunden lang angekettet werden, oder die Beschallung mit ohrenbetäubend lauter Rockmusik - all das und noch mehr hat Aamer in den 14 Jahren Gefangenschaft immer wieder am eigenen Leib erfahren müssen. "Die Kälte, mein Gott, das war furchtbar", erinnert er sich. "Sie lassen dich einfach dort liegen, angebunden an einem Ring im Boden. Manchmal kam überhaupt kein Vernehmungsoffizier. Du rufst, du klopfst, du schreist. Sie lassen dich nicht mal auf die Toilette."
Aamer verbrachte mehrere Jahre seiner Gefangenschaft in Isolationshaft. Bei einem im Jahr 2005 von ihm initiierten Hungerstreik, an dem sich zahlreiche Mithäftlinge beteiligten, verlor er die Hälfte seines Körpergewichts. Er habe damals die Einhaltung der Genfer Konvention erwirken wollen - vergeblich, erinnert sich der 46-Jährige heute. "Es hat vielleicht niemand mehr in Guantanamo gelitten als Shaker Aamer, weil er für seine Rechte und die von anderen eingetreten ist. Dafür wurde er immer wieder bestraft", hatte sein Anwalt Stafford Smith wenige Wochen vor der Freilassung seines Mandanten erklärt.
Aamer überzeugt: Blair wusste von Folterungen
Einen Prozess gegen die britische Regierung strebt Aamer nach seiner Freilassung nicht an, auch wenn er davon überzeugt ist, dass der frühere britische Premierminister Tony Blair und Ex-Justizminister Jack Straw von seinen Folterungen gewusst haben müssen - ein schwerer Vorwurf, geht es schließlich um die menschenrechtswidrige Behandlung eines britischen Staatsbürgers. Im Gespräch mit der BBC - das Interview in voller Länge sehen Sie hier - sagt Aamer: "Ich glaube nicht, dass das Gericht dieses Problem lösen kann. Ich glaube nicht, dass der Gerechtigkeit durch einen Gerichtsprozess genüge getan wird." Er wünsche sich nur, dass die Verantwortlichen die Wahrheit sagen, so der 46-Jährige.
Aamers Wut richtet sich aber nicht nur gegen die Amerikaner, die ihn 14 Jahre lang ohne rechtliche Grundlage gefangen hielten, und in weitere Folge gegen die Mitwisser in der britischen Regierung, sondern Lee Rigby auf offener Straße ermordet hatte. "Wie kann man sich das Recht nehmen, in diesem Land unter den Menschen zu leben, scheinbar ein normales Leben führen und dann einfach mitten auf der Straße jemanden töten wollen?", fragt Aamer im Interview mit der "Daily Mail". Der Islam erlaube es seinem Wissen nach nicht, dass man einfach so Menschen töte. An Dschihadisten gerichtet, sagt der 46-Jährige: "Verzieht euch!"
Aus dem Video-Archiv: Guantanamo Bay - Zehn Jahre Folter und Willkür
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