Ausgangssperre

Kurden können nicht einmal ihre Toten begraben

Ausland
28.01.2016 07:08

Das kompromisslose Vorgehen der türkischen Armee in den Kurdengebieten bringt immer mehr Bewohner der betroffenen Städte an den Rand des Erträglichen. Ein neues Gesetz macht es seit Anfang Jänner Kurden in den Gebieten unter Ausgangssperre so gut wie unmöglich, ihre Angehörigen zu beerdigen, die bei den Kämpfen getötet wurden. Das Gesetz erlaubt den Behörden, Leichen binnen drei Tagen ohne Zeremonie zu beerdigen, wenn die Familien sie nicht abholen - selbst wenn die Identität der Toten feststeht. So will Ankara Kundgebungen bei Trauerfeiern im Keim ersticken.

Siyasin Buruntekin hat gerade das erste Mal das Grab ihrer Tante in der Stadt Silopi in Südostanatolien besucht, jetzt ringt die 34-jährige Kurdin mit den Tränen. Sie erzählt, die Tante sei zu Nachbarn gegangen, weil ihr während der Ausgangssperre die Milch für ihr Baby ausgegangen sei. Türkische Sicherheitskräfte hätten der 40-Jährigen in den Hals geschossen. "Die Polizei hat ihre Leiche begraben, ohne die Familie zu informieren", sagt sie. Man sei nicht einmal darüber benachrichtigt worden, wo die Tote begraben wurde.

"Fühle mich nicht mehr als Bürger dieses Landes"
Anrainer in der Nähe des Friedhofs hätten die Beerdigung jedoch aus ihren Häusern heraus beobachtet und die Familie informiert. Die Wut über den Umgang mit der Toten ist Buruntekin anzumerken. "Erdogan ist persönlich dafür verantwortlich", sagt die Kurdin mit Blick auf den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. "Ich fühle mich nicht mehr als Bürger dieses Landes."

Ausgangssperren und regelmäßige Personenkontrollen in den Kurdengebieten (Bild: APA/AFP/ILYAS AKENGIN)
Ausgangssperren und regelmäßige Personenkontrollen in den Kurdengebieten

Wut auf den Staat herrscht auch bei der Familie von Taybet Inan in Silopi. Seine 57-jährige Ehefrau sei auf dem Rückweg von Nachbarn auf der anderen Straßenseite gewesen, als sie wenige Meter vor dem Tor ihres Hauses ins Bein getroffen wurde, sagt Chalid Inan (60). Er habe versucht, seiner Frau ein Seil zuzuwerfen, um sie auf das Grundstück zu ziehen - ohne Erfolg. "Sie rief immer wieder: 'Kommt nicht raus, kommt nicht raus, sonst werdet ihr auch getötet!' Sie war noch bis zum nächsten Tag am Leben", sagt Inan.

Polizei stoppte Krankenwagen, Frau verstarb auf der Straße
Sein Bruder Abdullah Inan erzählt, er habe einen Abgeordneten der prokurdischen Oppositionspartei HDP kontaktiert, der einen Krankenwagen für die Verletzte, die die ganze Zeit hilflos auf der Straße gelegen sei, organisiert habe. "Am Eingang der Straße hat die Polizei den Krankenwagen gestoppt." Der Bruder sagt, danach habe er bei der Polizei angerufen. "Die Polizisten fragten nach der Adresse. Nachdem ich sie ihnen gegeben habe, wurde das Haus beschossen." Erst nach acht Tagen sei die Tote geborgen worden.

"Dann hat die Polizei die Leiche aus dem Leichenhaus geschafft." Polizisten hätten ihn angerufen, auf das neue Gesetz verwiesen und die Beerdigung von Taybet Inan angekündigt. Acht Angehörigen aus einem Dorf ohne Ausgangssperre sei die Teilnahme erlaubt worden - aber niemandem aus der Stadt. Auch ihr Ehemann konnte sich nicht verabschieden. "Die Polizei hat das Grab ausgesucht", sagt Abdullah Inan empört. "Sie wurde unter Kontrolle der Polizei begraben." Ein Cousin namens Hassan Inan sagt: "Sie erlauben uns nicht einmal, unsere Toten zu beerdigen."

"Sie haben sogar Angst vor unseren Toten"
Güler Seviktek hat die Rückgabe der Leiche ihres 25-jährigen Bruders mit einem fast dreiwöchigen Hungerstreik erzwungen. Mesut Seviktek hatte im Viertel Sur in der Kurdenmetropole Diyarbakir, wo seit dem 2. Dezember eine Ausgangssperre gilt, für die Jugendorganisation der PKK gekämpft. Am 23. Dezember wurde er getötet. "Warum gibt der Staat die Leichen nicht zurück?", fragte Güler Seviktek noch während ihres Hungerstreiks. Das neue Gesetz sei "nur gegen die Kurden" gerichtet, meint sie. "Sie haben sogar Angst vor unseren Toten."

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