93 Tage danach
Paris: Jetzt reden die Überlebenden vom Bataclan
Die blutigen Anschläge in Paris: Nun haben Überlebende des Massakers in der Konzerthalle Bataclan dem "Spiegel" Exklusivinterviews gegeben. Dabei sprechen sie über ihre schrecklichen Erlebnisse in der Terrornacht vom 13. November 2015, in der islamistische Terroristen in Paris ingesamt 130 Menschen töteten, 90 davon allein im Bataclan. Auch drei Monate nach dem Blutbad würden sie immer noch in Todesangst leben, ohne psychologische Betreuung wäre der Alltag nicht zu bewältigen, erzählen die Überlebenden.
Etwa eine Stunde nach Beginn des Konzerts der kalifornischen Rockband Eagles of Death Metal stürmten die IS-Terroristen den Saal und schossen in die Menge. Die rund 1000 Besucher gerieten in Panik, viele flohen durch die Notausgänge.
"Wir landeten im Krieg"
Einer der Überlebenden ist Arnaud, der gemeinsam mit seiner Frau zwei Stunden lang in der Gewalt der drei Terroristen Samy Amimour, Ismael Omar Mostefai und Foued Mohamed-Aggad war. "Wir wollten ein Konzert besuchen und landeten im Krieg. Wir hatten ihnen nichts entgegenzusetzen."
Was in der Nacht des 13. November im Bataclan geschah:
1. Samy Amimour, Ismael Omar Mostefai und Foued Mohamed-Aggad feuern auf Gäste des Bataclan-Cafés.
2. Um 21.48 Uhr stürmen die Terroristen in den Konzertsaal und richten ihre Waffen auf die Besucher. Innerhalb der nächsten 20 Minuten sterben 89 Menschen, eine Person erliegt später ihren Verletzungen.
3. Gegen 22 Uhr treffen die ersten Polizisten vor Ort ein. Um 22.07 Uhr wird Amimour von einer Kugel getroffen, sein Sprengstoffgürtel explodiert.
4. Die Terroristen treiben die Geiseln in einen L-förmigen Gang im Obergeschoss. Die ersten Männer der Spezialeinheit BRI treffen um 22.15 Uhr ein, gegen 22.50 Uhr kommt Verstärkung.
5. Die BRI rückt in zwei Stoßtrupps in die erste Etage vor. Um 0.18 Uhr beginnt die Stürmung. Mohamed-Aggads Sprengstoffgürtel explodiert, Mosetfai wird erschossen. Um 0.23 Uhr sind alle Geiseln frei.
"Verdammt, denke ich, ich atme"
Als die Polizei das Gebäude stürmte und durch eine Kugel der Sprengstoffgürtel von Mohamed-Aggad explodierte, fiel auch Arnaud zu Boden. Es zerriss ihm das Trommelfell, Metallteile des Sprengstoffgürtels durchbohrten seinen Rücken. Arnaud erinnert sich: "Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem See aus Blut und Eingeweiden. Verdammt, denke ich, ich atme."
Er sah, wie die Terroristen die Waffen auf die schreienden und weinenden Besucher richteten. "Hört gut hin, hört die Schreie, so schreien unsere Frauen und unsere Kinder, die Frankreich bombardiert!", riefen sie. Lange blieb einer der Terroristen in seiner Nähe und drückte ihm immer wieder die Waffe in die Rippen. Blickkontakt musste er vermeiden, sonst wurden die Attentäter aggressiv. "Eigentlich glaubte ich nicht, dass meine Frau und ich überleben würden." Doch das Schicksal wollte es, dass sich der Terrorist später anderswo in die Luft sprengte - und Arnaud und seine Frau überlebten.
"Ich würde ihn foltern, nicht umbringen"
Drei Monate später stellt er sich beinahe täglich dieselbe Frage: "Warum habe gerade ich überlebt? Warum haben sie mich nicht einfach erschossen?" Innerlich regiere bei ihm aber auch sehr oft die Wut. "Oft möchte ich mich an einem der Radikalen rächen. Ich würde ihn foltern, nicht umbringen."
Das Grauen der Ereignisse hat sich auch beim Argentinier Alex tief ins Gedächtnis gebrannt. Immer, wenn er davon erzähle, müsse er weinen, sagt er. Dabei habe er sich damals doch nur auf einen Konzertabend gefreut. Als die Terroristen die Halle stürmten, hatte er freie Sicht auf den Eingang. Er sah die Kalaschnikows aus den Rucksäcken herausragen, dann fielen die ersten Schüsse. "Es dauert natürlich einen Moment, bis du begreifst. Was du siehst, passt nicht zu deiner Wirklichkeit." Er warf sich intuitiv auf den Boden, dann hörte er, wie sich die Terroristen über die Besucher lustig machten. "Wer jetzt aufsteht, darf gehen!", riefen sie.
Das Geschehene zu verarbeiten sei für ihn weiterhin schwierig, erklärt Alex. Er leide oft unter Verfolgungswahn. Um den Alltag zu bewältigen, braucht er psychologische Betreuung. "Wenn ich zu Hause aus dem Fenster schaue, spüre ich, dass auf der anderen Straßenseite jemand auf mich zielt. Mich erschießen will. Ich bin Opfer eines Attentats."
Louise war an diesem Abend zum wiederholten Mal im Bataclan. Als die ersten Schüsse fielen, dachte sie zunächst an Knallkörper. Erst als sich Menschen vor ihr auf den Boden warfen, registrierte sie, dass es sich um etwas Schlimmes handeln musste. "Ein Mann vor mir fiel um. Ich sah, dass er nicht mehr lebte." Dann drehte sie sich um. "Überall waren Leichen, Blut und Körperfetzen."
"Hatte Angst vor Weihnachtsbäumen"
Sie sei sich wie in einem schlechten Film vorgekommen. Auch sie tut sich bei der Aufarbeitung der Ereignisse schwer. "Zu Weihnachten hatte ich plötzlich Angst vor Weihnachtsbäumen. Angst, dass sich ein Terrorist im Baum versteckt. Angst, dass die Äste auf mich schießen könnten. Es ist dieses Gefühl, dass ich jederzeit sterben kann. Jemand kommt jemand und bringt mich um, einfach so."
Für einen Brigade-Mann, der das Bataclan gemeinsam mit seinen Kollegen schließlich stürmte, war der Einsatz wie ein Krieg. Auch er schildert dem "Spiegel" die dramatischen Szenen: "Wir schwammen in Blut. Was kann ich sagen? Das ist mein Beruf. Aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Und auf so etwas kann man sich auch nicht vorbereiten", sagt der Mann, der anonym bleiben will.
Der Alltag der Überlebenden hat sich seit dem 13. November 2015 massiv verändert. Nichts ist mehr wie früher. Die Narben werden wohl ewig bleiben. Dennoch versuchen sie, den Weg in die Normalität zu finden. "Ich sage mir, es ist schön, dass ich überlebt habe. Jetzt muss ich auch was Tolles aus meinem Leben machen", sagt Louise.
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