Einigung auf Gipfel:
EU-Flüchtlingspakt mit Türkei soll Sonntag starten
Nach stundenlangen und zähen Verhandlungen auf dem EU-Gipfel in Brüssel haben sich die Mitgliedsstaaten am Freitagnachmittag mit der Türkei auf einen Deal zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms geeinigt. Ankara verpflichtet sich, alle illegal eingereisten Migranten von den griechischen Inseln zurückzunehmen, im Gegenzug nehmen die Europäer syrische Kriegsflüchtlinge aus der Türkei auf. Der Pakt soll bereits am Sonntag in Kraft treten.
Der Deal sei von allen 28 Staats- und Regierungsschefs der EU genehmigt worden, twitterte der finnische Ministerpräsident Juha Sipilä vom Gipfel. Sein tschechischer Amtskollege Bohuslav Sobotka bestätigte dies ebenfalls auf Twitter: "Das Abkommen mit der Türkei wurde genehmigt. Alle illegalen Migranten, die aus der Türkei in Griechenland ankommen, werden beginnend mit 20.3. zurückgeführt."
"Das verändert die politische Lage"
"Das verändert die politische Lage", schrieb der estnische Premier Taavi Roivas auf Twitter. Zuvor hatten sich der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und EU-Ratschef Donald Tusk auf einen Text geeinigt, der anschließend von der Gipfelrunde gebilligt wurde. "Wir haben erkannt, dass wir dasselbe Schicksal, dieselben Herausforderungen und dieselbe Zukunft teilen", zeigte sich Davutoglu über die Einigung zufrieden.
Merkel: "Beitrag, den Schleppern das Handwerk zu legen"
Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, die stets einen Deal mit der Türkei forcierte, sagte auf der Abschlusspressekonferenz: "Europa wird es schaffen, auch diese schwierige Bewährungsprobe zu bestehen." Sie nannte den Pakt einen "wesentlichen Beitrag, den Schleppern das Handwerk zu legen" und "die Außengrenzen zu sichern". Die Vereinbarungen würden vor allem den Flüchtlingen helfen. An die in Idomeni befindlichen Flüchtlinge appellierte Merkel, "auf die griechische Regierung zu vertrauen und andere Unterbringungsmöglichkeiten" zu nützen, wo die Bedingungen deutlich besser seien.
Unklar ist allerdings noch, ob tatsächlich bereits ab Sonntag mit der Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei begonnen wird. Wie ein hochrangiger Vertreter der Türkei sagte, handle es sich beim 20. März nur um den Stichtag, ab dem der Deal zur Anwendung kommt. Schutzsuchende könnten demnach erst ab dem 4. April aus Griechenland in die Türkei zurückgeschickt werden. Die litauische Präsidentin wiederum behauptete: "Der Test der Umsetzung startet am Sonntag."
Visaliberalisierung an 72 Bedingungen geknüpft
Die EU muss für den Pakt dennoch einen hohen Preis zahlen. Denn im Gegenzug wird türkischen Staatsbürgern ab Ende Juni Visafreiheit gewährt, wenn das Land 72 Bedingungen erfüllt - darunter fällt die Einführung fälschungssicherer Pässe. Davutoglu sagte, dass die Türkei habe bereits 37 der 72 Bedingungen erfüllt. Was die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU betrifft, so sieht die Vereinbarung die Eröffnung von Gesprächen über den Staatshaushalt und sonstige Finanzen bis Ende Juni vor.
Weitere Kapitel sollen folgen, wenn im Juni eine Einigung in der Zypern-Frage erzielt ist. Derzeit laufen Verhandlungen über eine Wiedervereinigung der in einen griechischen und türkischen Teil geteilten Insel. Die EU hat mehrere Verhandlungskapitel mit der Türkei auf Eis gelegt, weil die Türkei bisher noch nicht ihre Häfen für zypriotische Schiffe geöffnet hat.
Weitere Geldflüsse an die Türkei von Projekten abhängig
Die Vereinbarung sieht zudem vor, dass die Türkei von der EU nur dann zusätzliches Geld erhält, wenn die bereits geflossenen drei Milliarden ausgegeben und Projekte zur Flüchtlingshilfe vorhanden sind. Die EU-Kommission will innerhalb einer Woche eine Liste von Projekten vorlegen. Die Türkei hatte im Vorfeld des Gipfels weitere drei Milliarden Euro gefordert.
Für den Mechanismus zur Aufnahme syrischer Kriegsflüchtlinge hat die EU der Türkei im Gegenzug 72.000 Plätze - 18.000 Plätze aus dem laufenden Resettlement-Programm und 54.000 Plätze aus einem nicht genutzten Kontingent zur Umverteilung von Flüchtlingen - angeboten. Weitere Details waren am Freitagnachmittag noch offen, etwa wie viele Flüchtlinge die EU darüber hinaus aus der Türkei über "Resettlement" aufnimmt, sobald die illegale Migration über die Ägäis zum Ende kommt.
Faymann: "Unser Ziel war: Schluss mit illegalen Routen"
Bundeskanzler Werner Faymann zeigte sich nach dem Gipfel zufrieden über die Vereinbarungen: "Unser Ziel war: Schluss mit den illegalen Routen." Es sei von allen in der EU beschlossen worden, dass das Durchwinken beendet werde. Faymann glaubt, dass der Deal bald Auswirkungen zeigen wird. Eine Flüchtlingspolitik für Menschlichkeit und Ordnung verlange, dass man gegen Schlepper funktionierende Modelle durchsetze, so Faymann. "Das ist eines, von dem ich überzeugt bin: Das kann auch Wirkung entfalten."
Die EU hat laut Faymann nicht über die angebotenen 72.000 Plätze für syrische Flüchtlinge hinaus konkrete Zusagen zur Aufnahme gemacht. Faymann plädierte dafür, dass das Modell in ein bis zwei Monaten überprüft wird. Außerdem erwartet er noch weitere Diskussionen der EU-Staaten über die Verteilung der Flüchtlinge.
Bezüglich einer Visafreiheit für türkische Staatsbürger müssen laut Faymann seitens der Türkei noch die Bedingungen erfüllt werden. Darüber werde im Mai diskutiert und im Juni entschieden. "Mehr als die Hälfte der Bedingungen sind zur Stunde nicht erfüllt", sagte Faymann.
Mitterlehner pocht auf "effektive Umsetzung"
Vizekanzler Reinhold Mitterlehner reagiert zurückhaltend auf den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal. Dieser enthalte "wichtige Fortschritte, die sich aber in der Praxis erst bewähren müssen", teilte der ÖVP-Chef am Freitagabend mit. "Entscheidend für den Erfolg ist daher die effektive Umsetzung, damit die illegale Migration gestoppt und das Geschäftsmodell der Schlepper zerschlagen wird."
Die Vereinbarung sei ein "Zweckbündnis", betonte Mitterlehner. Europa müsse seine Außengrenzen auch selbst stärker schützen und klar vermitteln, "dass es kein Recht für Flüchtlinge gibt, sich das beste Land in Europa auszusuchen". "Die Türkei wird die Flüchtlingskrise nicht im Alleingang für Europa lösen."
Viktor Orban: "Haben größte Gefahr gebannt"
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban ist mit den Ergebnissen des EU-Gipfels in Brüssel zufrieden, weil sein Land nicht zur Aufnahme von Flüchtlingen gezwungen wird. "Wir haben die größte Gefahr gebannt", sagte der nationalkonservative Regierungschef in Brüssel, wie die staatliche ungarische Nachrichtenagentur MTI berichtete.
Orban bezog sich damit darauf, dass keine Verpflichtung für EU-Staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen festgeschrieben wurde. Ungarn könne "aufatmen", weil Budapest diesmal zur Verteilungsfrage nicht habe Stellung nehmen müssen, sagte er. Damit habe Ungarn das Ziel seiner Diplomatie erreicht. Budapest hatte mehrfach erklärt, am liebsten keinen einzigen Flüchtling aufnehmen zu wollen.
Rechtliche Bedenken bleiben
Es gibt aber auch kritische Töne zu dem beschlossenen Türkei-Deal. Menschenrechtsorganisationen haben rechtliche Bedenken und befürchten pauschale Massenabschiebungen. Dazu teilte der der luxemburgische Regierungschef Xavier Bettel mit, dass das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) in den Deal involviert sei. "EU und internationales Recht müssen respektiert werden", betonte Bettel.
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