Polly Jean Harvey hat ihre Fans nahe herangelassen: Bei den Aufnahmen zu ihrem neunten Album "The Hope Six Demolition Project" konnte man der Britin nämlich im wahrsten Sinne des Wortes über die Schulter blicken. Nur eine Fensterscheibe trennte Interessierte im Somerset House in London von der Künstlerin - die selbst in den neuen Songs gerne die Beobachterin gibt.
Genau ein Monat dauert die Kunstaktion "Recording In Process" Anfang 2015, in deren Rahmen PJ Harvey mit ihren Mitmusikern zu den Instrumenten griff, während auf der anderen Fensterseite ihre Anhänger standen. Die Ablenkung wurde immerhin minimiert, als die auf ihrer Seite gespiegelten Scheiben Harvey und Co nicht erkennen ließen, wer ihnen da auf die Finger schaut. Ein in der Karriere der 46-jährigen Künstlerin wohl einzigartiger Prozess, gilt sie doch nicht unbedingt als unmittelbar greifbare Musikerin.
Alltagsreflektion
Doch für "The Hope Six Demolition Project" scheint die Vorgehensweise passend: Mehrere Monate hatte sich Harvey zu Recherchezwecken gemeinsam mit Fotograf Seamus Murphy auf Reisen gemacht; Afghanistan, der Kosovo und Washington DC waren die Ziele. Diese Auswahl macht schnell deutlich, dass die Britin ihre politische Agenda, die sie zuletzt sehr explizit auf dem gefeierten und mit einem Mercury Prize ausgezeichneten Vorgänger "Let England Shake" (2011) auslebte, noch weiter verfolgen möchte. Krieg, Flucht, sozialer Abstieg und politisches Desinteresse sind die Themen, die Harvey diesmal in den Fokus rückt.
Wobei sie sich zwar musikalisch nicht weit von den zuletzt angeschlagenen Tönen entfernt, aber eine eigentümliche Spannung viele Songs durchzieht. Ein Beispiel dafür wäre die erste Single "The Community Of Hope": Darin besingt Harvey ein Ward 7 genanntes Wohnviertel in Washington DC, das alles andere als gut weg kommt. Schulen wie ein "shithole", die Bewohner als Zombies, begebe man sich dorthin auf den "pathway of death". Gleichzeitig hat die Musik etwas eigentümlich-fröhliches, der Refrain weist durchaus Mitsing-Charakter auf. Das gesellschaftliche Elend als Hit? Nicht ganz, den Harvey zieht auch hier einen doppelten Boden ein.
Stimmungsvolle Schlaglichter
Kritik hat ihr das Stück dennoch eingebracht: Von politischer wie gesellschaftlicher Seite hagelte es Statements, dass die Sängerin eine einseitige Darstellung vorgelegt hat. Aber nimmt Harvey wirklich einen konkreten Standpunkt ein? Nicht nur die Zeile "At least that's what I'm told" sollte dabei zum Grübeln anregen. Und auch im weiteren Verlauf des Albums sind es vor allem kursorische Bilder, die vor dem inneren Auge auftauchen, eine Stimmung vermitteln, kurz in die betreffende Gegend entführen. Während immer wieder ein Hauch Marschmusik die Songs durchzieht, die Bläser als primäres Gestaltungsmotiv in den Vordergrund rücken, sind es textliche Schlaglichter, die Harvey einsetzt.
Das reicht von der Frau mit dem Schlüsselbund in einer verlassenen Gegend ("Chain Of Keys") über den verschmutzten "River Anacostia" bis zur Erkenntnis, dass Alkohol zur neuen "Heilpflanze" geworden ist ("Medicinals"): Hier wird nicht über Lösungen diskutiert, sondern werden allenfalls Ursachen oder Symptome von akuten Problemen eruiert. Im zentralen Track "The Wheel" verhandelt Harvey das Verschwinden von Tausenden Kindern. Immer wieder wiederholt sie in den bluesigen Track zum Ende hin "And watch them fade out". Wenn, dann ist das ein Plädoyer gegen das Vergessen - wobei es letztlich zweitrangig erscheint, welchen der Brennpunkte, die auf dieser Platte angesprochen werden, man gerade vor sich hat.
Vokale Stimmungsmache
Die Dringlichkeit von "Let England Shake" erreicht Harvey dabei allerdings nur selten. Das mag einerseits an der Sprunghaftigkeit der den Songs zugrunde liegenden Lokalitäten und Geschichten liegen, aber auch an der Tatsache, dass die Musik teilweise in den Hintergrund rückt. Es sind die Stimmen, die hier den Vorzug erhalten: Mal im Falsett gehalten, dann von ihren männlichen Kollegen geerdet, ist "The Hope Six Demolition Project" letztlich Harveys vokales Erinnerungsalbum mit den eindrücklichsten Stationen ihrer Reise.
Am 8. Juli darf dann das Wiener Publikum beim Harvest Of Art in der Marx-Halle seine gesellschaftspolitische Ader gemeinsam mit PJ Harvey erkunden.
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