Fünf Jahre lang hat sich der französische Electro-Pionier Jean-Michel Jarre nicht mehr blicken lassen - das war dem ambitionierten Projekt "Electronica" geschuldet, das als Ergebnis zwei Studioalbum an die Oberfläche brachte. Neben "Whisteblower" Edward Snowden hat der 67-Jährige mit internationalen Top-Stars wie Gary Numan, Primal Scream, Peaches oder den Pet Shop Boys die Cremé de la Cremé der Musikszene um sich versammelt. Das Ergebnis kann man sich am 17. November in der Wiener Stadthalle anhören und ansehen.
"Krone": Jean-Michel, 2011 warst du live in Graz und Wien zu sehen, seitdem hast du keine Touren mehr gemacht, sondern nur mehr Einzelgigs gespielt.
Jean-Michel Jarre: Ich habe vor ziemlich genau fünf Jahren mit dem sogenannten "E-Project", das dann später eben zu den beiden "Electronica"-Alben wurde, begonnen. Ich wollte die Geschichte der elektronischen Musik wiedergeben, indem ich mit Menschen aus verschiedenen Generationen arbeite, die mich schon immer inspirierten. Ich habe sie oft besucht, damit der kreative Prozess möglichst echt ist. Das hat mir natürlich viel Zeit gekostet - auch, dass so gut wie alle zusagten. Ich habe aufgrund der Fülle an Partnern zwei Alben gemacht und jetzt sind plötzlich fünf Jahre vergangen.
"Krone": Das war mit Sicherheit das mit Abstand ambitionierteste Projekt deiner bisherigen Karriere?
Jarre: Ich hatte anfangs keinen großen Plan, wohin das alles führen sollte und schlussendlich wurde es zu einem absoluten Großprojekt. Ich war nicht vorbereitet auf die Intensität der Arbeit. Das Projekt wuchs quasi auf der Straße, weil sich alles nach und nach ergab. Am Ende war es sicher das ambitionierteste meiner Karriere.
"Krone": Hattest du von Anfang an ganz spezielle Musiker im Kopf, die daran teilnehmen sollten?
Jarre: Absolut. Eigentlich alle, die du auf den beiden Alben hörst, weil sie aus bestimmten Gründen zum Projekt passten. Die Pet Shop Boys zum Beispiel haben definitiv die Mischung aus Britpop und elektronischer Musik geprägt - zudem hatten sie durch ihren Einsatz in der Gay-Community einen politischen Ansatz. Auch Peaches ist eine sehr feministische, subversive Aktivistin, die einen einzigartigen elektronischen Sound hat. Hans Zimmer, der große Hollywood-Kompositeur, hat auch einen Background im elektronischen Bereich und Primal Scream haben diesen Psychedelic- und Punk-Touch, den die elektronische Musik hier und da aufweist. Gary Numan zum Beispiel ist so etwas wie der David Bowie der elektronischen Musik. Es gab spezielle Gründe für all die Leute, sie für das Projekt auszuwählen.
"Krone": Hast du wirklich alle Wunschgäste bekommen oder musstest du auch mit Absagen leben?
Jarre: Ich war sehr überrascht davon, dass tatsächlich jeder zusagte. Irgendwann musste ich das Projekt selbst stoppen, weil es schon so viele Nummern waren und ich sonst nie mehr fertiggeworden wäre.
"Krone": Du bist einer der großen Pioniere der elektronischen Musik und des Digitalismus. Ich finde es insofern richtig romantisch, dass du dich mit den Künstlern persönlich getroffen hast, anstatt Mails und Files hin- und herzuschicken. Das war doch alles viel teurer und komplizierter?
Jarre: Es verändert einfach alles. Das Konzept ist alt, aber zeitlos. Wir sitzen jetzt auch hier und reden miteinander, das ist einfach total anders, als wenn wir telefonieren würden. Wir sehen, wie der andere reagiert und haben eine physische und keine abstrakte Beziehung zueinander. Wenn es um Musik geht, ist dieser persönliche Aspekt noch viel wichtiger. Die elektronische Musik an sich ist ein sehr einsamer Prozess, wo du daheim in deinem Studio sitzt und nicht unbedingt wen von außen brauchst. Es gibt natürlich auch elektronische Bands wie Air oder die Chemical Brothers, aber das ist eher selten. Es ist interessant zu sehen, mit welchem Enthusiasmus die anderen Musiker bei den eigenen Prozessen mitgemacht haben. Ich bin immer noch sehr bewegt davon, dass alle zusagten und ein Teil dieses Projektes sein wollten.
"Krone": War auch das der Grund, dass du mit den anderen zusammenarbeiten wolltest? Weil du eben immer der "Lone Ranger" warst und die Kompositionen somit etwas fruchtbarer wurden?
Jarre: Mitunter schon, ja. Am Anfang war ich natürlich etwas schüchtern und ich habe schon meine Zeit gebraucht, um die Tür zu öffnen und mit anderen zu arbeiten. Wir haben nicht oft die Möglichkeit mit jemandem vom Start weg zusammenzuarbeiten, den wir mögen. Es hat sehr lange gedauert, weil jeder seine Pläne und Termine hatte, aber all das sehe ich als ein Privileg, es war eine unfassbar schöne Erfahrung, diese Alben zu machen.
"Krone": Es ist schwer vorstellbar, dass jemand schüchtern ist, wenn er schon mal vor 3,5 Millionen Menschen in Moskau aufgetreten ist…
Jarre: Das klingt verrückter als es ist. Es ist viel schlimmer, wenn du alleine mit einer Gitarre auf der Bühne stehst und die ganze Aufmerksamkeit auf dich ziehst, als ein Teil vieler visueller Elemente zu sein. Performance ist eine klare Chemie zwischen Bühne und Publikum.
"Krone": Ist dir der visuelle Aspekt deiner Shows wichtiger als das Erschaffen der Songs?
Jarre: Das Visuelle ist eine Konsequenz aus der Musik. Ausschließlich nur die elektronische Musik zu hören ist einfach zu wenig. Wenn die Leute heute die teuren Tickets für Konzerte kaufen, wollen sie auch ein Gesamterlebnis haben. Wir haben heute einfach visuelle Erwartungen unserer Künstler und ich habe mir damals überlegt, wie ich das mit meiner Performance machen kann. Das war eigentlich der Ursprung dafür für mich.
"Krone": Leute wie Bobby Gillespie von Primal Scream oder Peaches haben natürlich auch selbst sehr große Egos. Ist es dann am Ende nicht oft schwierig, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen?
Jarre: Vielleicht ziehen mich solche selbstständigen Künstler auch an, das ist per se nichts Schlechtes. Wenn es um den kreativen Prozess geht, sind wir aber alle sehr bescheiden, weil jeder Künstler weiß, dass es nicht einfach ist, vor einer weißen Seite zu sitzen, die man noch füllen muss. Man hat da immer Zweifel und echte Künstler sind da unsicherer als man von außen vielleicht glaubt. Das Image der Künstler mag oft Wildheit und etwas Rohes suggerieren, aber in Wirklichkeit ist das oft total anders. Bobby Gillespie ist einer der nettesten Personen, die ich je getroffen habe - für Peaches gilt dasselbe. Das sind tolle Künstler, die total am Boden geblieben sind. Ich habe Peaches unlängst in Paris gesehen - eines der besten Konzerte der letzten drei bis vier Jahre. Da waren einfach ein paar DJs, sie am Mikro und ein paar Tänzer und Künstler. Sie ist so unheimlich charismatisch und ich bin irrsinnig stolz, sie auf dem Album zu haben.
"Krone": In erster Linie hast du die Gäste also aufgrund ihres Zugangs zu elektronischer Musik gewählt?
Jarre: Auch aufgrund ihres Zugangs zur Technologie im Allgemeinen. Außerdem sind sie total eigenständig, denn wenn du sie hörst weißt du sofort, wer sie sind. Das sind einfach große Künstler mit sehr prägnanten Identitäten.
"Krone": Den wohl interessantesten Gast hast du auf der Nummer "Exit" - es ist Whisteblower Edward Snowden. Wie bist du mit ihm zusammengekommen?
Jarre: Ich war einfach berührt von diesem jungen Mann und all dem, was er gemacht hat. Ich habe seinen Weg seit der Enthüllung im "Guardian" genau verfolgt und er erinnert mich an meine Mutter, die in der Französischen Revolution auch stark gegen Verfehlungen ankämpfte. Snowden hat eigentlich alles nur getan, weil es für sein Land machte und nicht, um es zu zerstören oder zu verraten. Jetzt, wo die "Panama Papers" enthüllt wurden, werden die Whisteblower gefeiert, weil es ums Geld geht. Aber wenn es um Menschenrechte und Meinungsfreiheit geht, ist die Situation wesentlich unfairer. Dieser Mann sollte als moderner Held gelten, so sehe ich ihn. Deshalb wollte ich ihm auch einen schnellen Technotrack auf den Leib schreiben, wo er einfach perfekt dazu passt. Die Geheimdienste wie CIA oder das FBI sollten sich schämen, dass sie ihn für seine Taten nicht verehren. Gerade in diesen Zeiten, wo es den jungen Menschen an Vorbildern fehlt, wird ein solches falsch dargestellt.
"Krone": War es schwierig, mit ihm in Kontakt zu treten?
Jarre: Ich habe es über die Redaktion des "Guardian" versucht, die mich dann weiter in Verbindung gesetzt haben. Ich habe dann herausgefunden, dass er elektronische Musik mag, was natürlich kein Nachteil war. Anfangs hatten wir eine Videokonferenz in meinem Aufnahmestudio und ich habe ihm die Idee des Projekts nähergebracht. Er hat auch den Titel "Exit" gemocht und ich habe ihn gefragt, ob wir ihn in Konzerten und Festivals einbauen können, was er sofort als gute Idee befand. Wir haben uns dann getroffen, um ihn und sein Statement zu filmen, das war natürlich ein besonderer Moment.
"Krone": Was ist denn die Essenz des Albums, wo liegen die Zusammenhänge? Geht "Electronica 2: The Time Machine" auch gegen die Auswirkungen der modernen Technologie?
Jarre: Es ist eine Mischung aus all dem, aber es geht nicht gegen die Technologie. Die Technologie selbst ist neutral, es obliegt dem Menschen, ob er sie richtig oder falsch benutzt. Als Musiker willst du etwas Positives erschaffen, das sollte das Grundprinzip sein. Es geht unter anderem eben auch darum, wie der Mensch die Technologie benutzt. Ich schaue auch darauf, wie wir die elektronische Musik sehen, durchaus auch aus historischer Sichtweise. Am ersten Album habe ich Tracks mit Edgar Froese von Tangerine Dream und mit den Fuck Buttons gemacht - die sind nicht so bekannt und du kannst irrsinnig schwer einschätzen, aus welcher Zeit diese Songs kommen, weil sie eben so zeitlos klingen. Heute gibt es auch so viele Varianten, wie man etwas konsumieren kann. Einerseits kannst du alle paar Minuten auf YouTube weiterzappen, andererseits kannst du 50 Stunden lang "Game Of Thrones" schauen, ohne dazwischen zu schlafen. Das ist immer noch eine ziemlich neue Welt und die beiden "Electronica"-Alben sind ähnlich aufgebaut. Du kannst dir die Songs mit deinen Lieblingskünstlern aussuchen, oder auch gerne mal die Scheibe durchhören.
"Krone": Geht diese Bewegung nicht in die falsche Richtung? Heute, wo die jungen Leute tatsächlich fast nur mehr Singles hören und sich selten auf ein Gesamtwerk einlassen?
Jarre: Menschen haben schon immer gemacht, was sie wollen. Das Problem liegt aber nicht beim Endverbraucher, sondern an den Plattformen im Internet, die durch ihr Standing bei den Kids zu solchen Monstern wurden. Die Leute sind nicht die Feinde. Es gab niemals zuvor so viel Musik und auch nie zuvor bekamen die Musiker und Schreiber so wenig Geld dafür. Auch das berührt den Bereich der Menschenrechte, weil man einfach nicht gerecht entlohnt wird. Wenn ein Kind heute den Traum hat, Journalist, Fotograf oder Musiker zu werden, wird es zu einem großen Teil keine Chance haben, diesen Traum einmal realisieren zu können. Die Wirtschaft dafür existiert einfach nicht mehr und man muss neue Geschäftsmodelle für Kreative schaffen. Da geht es um weit mehr als nur um das Geld. Wir haben ja Jobs und verdienen etwas, aber es geht um die künftigen Generationen. Spotify ist ein Multimillionenkonzern und die meisten Künstler können sich mit den Jahreseinnahmen daraus nicht einmal eine Pizza mit Anchovis leisten.
So kann es einfach nicht weitergehen, das ist ja auch allen klar. Ohne uns würde dieses Geschäft gar nicht laufen, hier liegt also etwas ganz stark im Argen. Rechne nur mal durch - wenn von jedem verkauften Smartphone nur ein einziger Euro zu den Kreativen gehen würde, würde es all die Probleme mit Musikern, Schriftstellern, Malern oder Journalisten gar nicht geben. Die Lösung liegt eigentlich auf der Hand - und die Medien haben die Verantwortung dafür. Ich las unlängst mehrere Artikel wo stand, dass es der Musikindustrie immer besser gehen würde. Das ist nicht mehr als ein schlechter Witz, denn die meisten müssen nebenbei einen anderen Job ausüben, um überhaupt ihrer Leidenschaft nachgehen zu können. Die Majorlabel kassieren auf unseren Rücken - aber die wahren Kreativen bleiben auf der Strecke. Diese Botschaft müssen wir auch weitergeben.
"Krone": Die elektronische Musik wird heute auch sehr schnell mit massentauglichen DJs wie David Guetta, Avicii oder Tiesto in Verbindung gebracht. Wie denkst du über den EDM-Bereich und warum hast du mit keinem aus diesem Bereich gearbeitet?
Jarre: Ich habe schon mal einen Song mit Armin van Buuren gemacht, mir ist das Genre also nicht fremd. Es ist einfach ein neuer, anderer Sektor der elektronischen Musik. EDM hat sich stark verändert und ich habe vor Leuten wie van Buuren großen Respekt, weil er seine Trancemusik immer wieder verändert. Die meisten dieser DJs sind heute aber Pop-Künstler und nicht wirklich ein Teil der elektronischen Musikszene. Die großen Stars machen Popsongs. Zwischen Avicii und Carl Cox gibt es riesige Unterschiede. Mit allem gebührenden Respekt, aber wenn ich einen Song von Calvin Harris höre, dann gehört er für mich nicht zur Familie der elektronischen Musiker. Das ist ja nichts Schlechtes, nur anders. Ich habe aber schon hier und da mit Leuten aus der Szene gearbeitet, man muss immer offen für Neues sein.
"Krone": Am 17. November kommst du mit deinen neuen Alben in die Wiener Stadthalle. Worauf dürfen wir uns gefasst machen?
Jarre: Ich arbeite gerade an einem Konzept, dass große Festivals und Indoor-Shows gleichermaßen verbinden kann. Es geht um eine Erzählstruktur, die von Videos und Visuals verstärkt wird. Ich will gerne ein 3D-Gefühl verbreiten, denn Musik ist eine dreidimensionale Aktivität. Vibrierende Luft wird von der Quelle zum Gehör des Menschen geführt. Wir arbeiten einfach daran, all die optischen Schmankerl und grafischen Zusätze an die Gesamtperformance anzupassen.
"Krone": Werden bei diversen Konzerten auch deine Gäste mit dir auftreten?
Jarre: Musikalisch versuche ich meine Klassiker von "Oxygen" oder "Equinox" mit einem zeitgemäßen 2016er-Sound zu verbinden. Von Zeit zu Zeit sollten mich auch ein paar Künstler unterstützen, aber das liegt natürlich immer an den jeweiligen Terminplänen.
"Krone": Gibt es etwas, dass dir von Wien besonders gut in Erinnerung blieb?
Jarre: Wien ist natürlich extrem stark mit klassischer, aber auch elektronischer Musik verbunden. Elektronische Musik hat definitiv nichts mit amerikanischem Pop zu tun, sondern ist etwas Grundeuropäisches. Elektronische Musik stammt direkt von der klassischen ab und hat nichts mit Rock, Blues und Jazz zu tun. In Wien zu spielen ist immer sehr speziell für mich, weil diese Stadt über Jahrhunderte hinweg zum Zentrum verschiedener Arten von Musik zählte.
"Krone": Ist es manchmal etwas surreal für dich, dass du der Allgemeinheit wesentlich bekannter bist als deine eigenen Ikonen Pierre Schaeffer und Karlheinz Stockhausen?
Jarre: Es ist einfach unfair. Die beiden sind die absoluten Pioniere. Ohne sie würden wir gar nicht existieren. Im Internet und auf meinen Seiten versuche ich die Menschen so gut und oft es nur geht an diese Legenden zu erinnern. Es würde ohne sie gar keine DJs geben.
"Krone": Du hast vor Millionen von Menschen gespielt, Klänge für den Kosmos und auch für die Tiefsee produziert. Gibt es da noch Träume, die du dir erfüllen möchtest?
Jarre: Ich fühle mich sehr privilegiert, ein Künstler zu sein und habe mir mit den beiden "Electronica"-Alben einen meiner allergrößten Träume bereits erfüllt. Ich denke einfach von Tag zu Tag und versuche mir jeden Tag weiter meinen Traum zu erfüllen, den ich lebe. Ich teile diesen Traum mit meinem Publikum und hoffe, dass er auch für meine Fans inspirierend ist. Das ist mein Ziel.
Am 17. November kommt der Kultmusiker nun endlich wieder nach Österreich. In der Wiener Stadthalle wird es also eine bunte Mischung aus brandneuen Songs und alten Klassikern geben, die mit beeindruckenden Visuals und 3D-Effekten angereichert werden. Tickets erhalten Sie unter 01/588 85-100 oder unter www.ticketkrone.at.
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