Lasst mich doch in Ruhe. Mir doch egal, dass ihr die E-Klasse mit der C-Klasse verwechselt (geht mir ja auch so), aber innen ist sie besser als die S-Klasse! Anmutung wie auf einer Motorjacht, die in Monte Carlo vor Anker liegt, ein Flatscreen gefühlt so groß wie der in meinem Wohnzimmer, intelligent wie Albert Einstein und dazu Taxi und Fahrer in einem. Ein Auto wie von einem anderen Stern.
Der Stern an und für sich ist natürlich noch immer derselbe, und der darf auch stolz vom Kühlergrill emporragen. Bei jeder anderen Marke im näheren Umfeld würde so etwas lächerlich wirken, hier hingegen hat es Stil. Bei allem abgefahrenen Modernitäts-Novitätismus bleibt sich die E-Klasse auch treu. Im Vor-Vorgänger habe ich im Herbst 2006 eine Woche quer durch Kasachstan "gewohnt", dieses Gefühl kommt jetzt wieder auf - in einem Auto, das so viel hat und kann, dass es einem schon fast wieder zu viel werden kann.
Aber gut, man muss sich ja nicht zwangsläufig in die 66 Seiten starke Preisliste vertiefen (davon allein 23 Seiten Design!), allerdings zahlt es sich aus. Und der Daimler hat es allem Anschein nach hinbekommen, dass man all die Funktionen ohne Informatik-Studium in den Griff bekommt. Kernstück ist der Riesenbildschirm im IMAX-Format, der aus zwei direkt nebeneinander liegenden 12,3-Zoll-Screens besteht. Aller Ehren wert: Entgegen dem ebenso verbreiteten wie fragwürdigen Trend handelt es sich nicht um Touchscreens.
Bedienen lässt sich die Infotainment Wall auf dreierlei Art: via Drehrad auf der Mittelkonsole, per darüberliegendem Touchpad oder - und das ist völlig neu - mit zwei berührungssensitiven Buttons am Lenkrad (ähnlich wie wir das vom Blackberry kennen). Dabei steuert der linke Knopf den Bildschirmteil hinterm Lenkrad, der rechte Knopf den rechts daneben. Da kann man sich dran gewöhnen, wofür man sich auch ein bisschen Zeit nehmen sollte. Für Klimaautomatik und viele andere wichtige Funktionen gibt es zum Glück noch immer genügend dezidierte Tasten.
Jedenfalls haben sie hier das, was sie im Luxusschiff S-Klasse anbieten, weit übertroffen. Moderner geht es wohl nicht (kostet aber auch mehr als 5000 Euro extra). Kleine Einschränkung: Das Navi ist nicht von der ganz schnellen Truppe. Es dauert unangemessen lang, bis etwa der Befehl zum Rein- oder Rauszoomen umgesetzt wird.
Zwischen Sänfte und Skalpell
Kommen wir zwischendurch zum Autofahren an sich. Zum Verkaufsstart hat man die Wahl zwischen zwei Dieselmotoren (mit vier oder sechs Zylindern) sowie einem Vierzylinder-Benziner, alle mit Neungang-Automatik und Heckantrieb (Allrad sowie mehr Motoren inkl. Hybrid und AMG folgen bald). Zudem kann man zwischen drei teils adaptiven Stahlfederfahrwerken wählen - und der herrlichen Mehrkammer-Luftfederung. Damit und mit dem 194 PS starken Einstiegsdiesel 220d war ich rund um Stuttgart unterwegs und bin durchaus begeistert. Der Motor ist extrem kultiviert, leise, kraftvoll und durchzugsstark, ab 1600/min. liegen fette 400 Nm an. Kein Wunder, dass der 1,6-Tonner (bis zu 70 kg leichter als der Vorgänger) in 7,3 Sekunden von Null auf 100 km/h beschleunigt. Auf der anderen Seite glänzt er mit dem phänomenalen Normverbrauch von 3,9 l/100 km.
Der Fahrmodus Comfort macht seiner Bezeichnung alle Ehre, er liefert ein der S-Klasse vergleichbares Fahrgefühl. Auf Sport und Sport plus straffen sich die Muskeln und Sehnen des Autos deutlich, die Lenkung wird spürbar gefühlsechter, präziser und der dicke Benz durcheilt selbst enge Wechselkurven mit spielerischer Freude. Immer mit einer gewissen Contenance, immer gleitend, schließlich sitzen wir in der E-Klasse, nicht im AMG GT.
Egal in welchem Modus: Es geht vorbildlich leise zu im schönen E, kein Windgeräusch dringt ans Ohr, nur der brillante Sound der Burmester-Anlage mit dem 3D-Effekt. Man sitzt wie im Konzertsaal, hat aber ungleich mehr Platz, auch mehr als beim Vorgänger, weil das Auto gewachsen ist (Radstand 2,94 statt 2,87 m; Länge 4,92 m statt 4,88 m).
Autopilot: Bei Gebrauch rütteln
Was derzeit technisch machbar ist, zeigt die Mercedes E-Klasse mit den quasi-autonomen Fahrfunktionen. Der Drive Pilot folgt anderen Fahrzeugen mit bis zu 210 km/h im Sicherheitsabstand, lenkt dabei auch selbsttätig sogar in moderaten Kurven; bis 130 km/h soll er das sogar ohne Fahrbahnmarkierungen können, indem er sich an "Parallelstrukturen und umgebenden Fahrzeugen" orientiert. Zweimal am Tempomathebel gezogen, dann übernimmt der Wagen auch das gerade geltende Tempolimit (so er es korrekt erkannt hat). Darüber hinaus wechselt er die Spur, wenn der Fahrer den Blinker setzt, um zu überholen oder danach wieder rechts einzuscheren (bis 180 km/h). Natürlich nur, wenn die Spur weit genug frei ist. Eilig haben darf man es nicht, denn der Blinker muss zwei Sekunden gesetzt sein, bevor der Spurwechsel beginnt. In Österreich zugelassen sein darf das Auto auch nicht - sonst ist der Spurwechsel deaktiviert.
All das funktioniert auch, wenn ich die Hände zeitweise vom Lenkrad nehme, was mir der Gesetzgeber aber verbietet. Daher fordert mich die Elektronik erst optisch, dann auch akustisch auf, das Lenkrad wieder festzuhalten (oder die Steuerknöpfchen daran zu berühren). Das Ganze ist also nicht als Autopilot, sondern zur Unterstützung gedacht. Allerdings erkennt das System meine Hände nur dann, wenn ich das Lenkrad aktiv bewege - ich muss unsinnigerweise immer wieder am Lenkrad rütteln, damit der Benz merkt, dass ich da bin. Das lenkt ab. Mit der Entspannung und Unterstützung ist es also nicht allzu weit her.
Gut gelöst ist der Fall, dass ich irgendwann vielleicht wirklich nicht mehr reagieren kann: Dann bleibt der Wagen mit Warnblinker in der Spur stehen.
Doch hat das System seine Tücken
Im Lauf der Testfahrten musste ich häufig eingreifen, um einen Unfall zu vermeiden. Da verließ das Auto auf der Autobahn plötzlich die linke Spur Richtung Leitplanke, trotz trockener Fahrbahn und perfekter Straßenmarkierung, und das mehrmals. Besorgniserregend ist auch ein anderer Fall, der generell zu einer Fehlfunktion führte: Setzt man den Blinker links, um zu überholen, es kommt aber jemand von hinten, dann setzt der Mercedes zwar korrekterweise nicht zum Spurwechsel an, beachtet aber die rechte Fahrspurmarkierung plötzlich nicht mehr und verlässt die Spur.
Die Reaktion seitens Mercedes: "Der Fahrer ist immer verantwortlich, das ist vom Gesetzgeber auch so vorgesehen." Nur, ganz ehrlich: Das dauernde Damoklesschwert einer immer wiederkehrenden Fehlfunktion sorgt nicht für die Unterstützung des Fahrers, sondern für dauernde Anspannung.
Einparken per Smartphone
Eine zumindest für Leib und Leben ungefährliche Autonomfunktion ist das Einparken per Smartphone. In Zeiten, da Parklücken immer enger (bzw. Autos immer größer) werden, kann das eine große Hilfe sein: Die Sensoren erkennen eine Parklücke, ob längs oder quer, ich wähle am Display aus, ob ich vorwärts oder rückwärts einparken lassen will, steige aus und male am Handy-Display so lange mit dem Finger Kreise, bis der Wagen in die Lücke hineinrangiert ist. Die Kreise sollen sicherstellen, dass ich Herr der Lage bin. Wenn ich aufhöre, bleibt das Auto stehen:
Ganz nebenbei kann das Smartphone auch als Autoschlüssel fungieren.
Interessante neue Assistenzsysteme
Autos aus allen möglichen Richtungen erkennen oder selbsttätig stehen bleiben, das können inzwischen so ziemlich alle. Die neue E-Klasse kann mehr als andere. So kann sie ein Stauende erkennen und rechtzeiVersuch, einem Fußgänger auszuweichen und optimiert die Lenkbewegung. Die Multibeam-LED-Scheinwerfer leuchten mit jeweils 84 einzelnen LEDs, können dadurch das Licht ideal verteilen und potentielle "Blendopfer" ausblenden.
Im Fall eines Unfalles können zwei neue Pre-Safe-Systeme helfen: Ein pyrotechnisch gezündeter Schubs-Airbag in der Seitenwange des Vordersitzes rückt den Fahrer bzw. Beifahrer einige Zentimeter Richtung Fahrzeuginneres und verschafft ihm Platz. Und ein über die Audioanlage eingespieltes Rauschen bereitet das Gehör der Insassen auf das zu erwartende Unfallgeräusch vor, um es zu schützen. Nicht nur der Aufprall ist laut, sondern auch auslösende Airbags.
Unterm Strich
Mercedes hat mit der neuen E-Klasse gegenüber der Konkurrenz einen Riesenschritt gemacht. Komfort, Bedienung, Assistenzsysteme, auch der Einstiegsdieselmotor - alles hat ein erstaunliches Niveau erreicht. Ganz zu schweigen von den Autonomfunktionen, allerdings mit Abstrichen. Denn so aufsehenerregend es ist, was die E-Klasse allein kann, welche Situationen sie zu meistern in der Lage ist - wenn die Systeme dann doch immer wieder ohne Not, bei besten Bedingungen versagen, ist das nicht im Sinne des Kunden.
Beim Einstiegspreis von 49.540 Euro für den 220d hält sich Daimler geradezu vornehm zurück. Schöpft man die Möglichkeiten einigermaßen aus, kann man ganz locker noch einmal die Hälfte drauflegen. Andererseits macht die E-Klasse auch ohne die ganze Opulenz was her. Manchmal ist weniger ja auch mehr. Man muss sich nur über eines im Klaren sein: Nachrüsten kann man die ganzen Schmankerl nicht.
Warum?
Warum nicht?
Oder vielleicht …
… Mercedes C-Klasse in Top-Ausstattung, vom Luxus her Mercedes S-Klasse; 5er-BMW (nächste Generation), Audi A6 (nächste Generation)
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