Auch, wenn das offizielle Deutschland die Entscheidung der Briten bedauert, der EU den Rücken zu kehren: Für die deutsche Wirtschaft ist das Votum in Großbritannien nicht nur Unsicherheitsfaktor, sondern auch Chance. Ein führender deutscher Start-up-Finanzierer erwartet, dass Berlin nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU London als Gründerhochburg den Rang ablaufen wird.
"Der Brexit ist eine gute Nachricht für die deutsche Start-up-Szene", zitiert das IT-Portal "Golem" Christoph Gerlinger, den Chef des Risikokapitalgebers German Startups Group. Berlin sei schon im vergangenen Jahr bei der Anzahl und dem Volumen der Finanzierungsaktionen für Start-ups an London vorbeigezogen.
Nach dem EU-Austritt der Briten werde sich diese Entwicklung aus seiner Sicht verstärken. "Wir rechnen sowohl mit der deutlichen Verringerung der Neuansiedlung von Start-ups in London zu Gunsten von Berlin als auch mit dem Zuzug erfolgreicher Londoner Start-ups", sagt Gerlinger.
IT-Branche fürchtet abweichende Regeln in GB
Als problematisch betrachtet dagegen der deutsche IT-Branchenverband Bitkom das Votum der Briten. "Es ist zu erwarten, dass sich Großbritannien von den Standards des digitalen Binnenmarkts entfernen wird. Für Unternehmen aus Deutschland bedeutet das, dass sie sich mit abweichenden Regeln in Großbritannien beschäftigen müssen", heißt es vom Verband. Gerade für Start-ups und Mittelständische Firmen sei das aber nur schwer möglich.
Zum Problem könnte der Brexit aus Sicht des Verbands auch für britische Konsumenten werden. Strenge Datenschutzregeln, aber auch Regulierungen im Bereich Konsumenten- und Umweltschutz seien bisher meist von der EU ausgegangen und wurden teils gegen den Widerstand der Briten beschlossen. Sind diese nicht mehr in der EU, können sie Standards beim Daten-, Konsumenten- und Umweltschutz eigenmächtig senken.
Suchen sich große Konzerne nun neue Zentralen?
Offen ist derzeit die Frage, wie sich der EU-Austritt der Briten auf die Niederlassungspolitik großer IT-Konzerne auswirken wird. Bisher hatten viele von ihnen ihre Europazentralen und Serverfarmen in Großbritannien. Wenn Großbritannien etwa beim Daten- und Konsumentenschutz von EU-Standards abweicht, könnte das für Konzerne mit Sitz in London den Zugang zum EU-Markt erschweren. Durchaus denkbar, dass manche außereuropäischen Konzerne darauf mit einem Umzug aufs europäische Festland reagieren.
Das birgt Chancen für andere EU-Länder wie Deutschland oder Österreich, insgesamt sehen Branchenbeobachter derzeit aber vor allem wirtschaftliches Risiko im EU-Austritt der Briten. Gerade in der Digitalwirtschaft war es schon bisher schwer, sich mit anderen Ländern auf einheitliche Standards zu einigen - etwa mit den USA beim Thema Datenschutz. Muss man jetzt auch mit den Briten gesonderte Rahmenverträge aushandeln, wäre das für den europäischen IT-Markt ein Rückschlag, glaubt man beim Wirtschaftsverband Eco. Die Rechtsunsicherheit in der digitalen Wirtschaft bringe voraussichtlich Umsatzrückgänge.
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