Schon 6000 in Haft

Umstürze, Gewalt: Erdogan wütet im Rache-Rausch

Ausland
17.07.2016 17:30

Nach der Niederschlagung des Militärputsches in der Türkei, bei der nach jüngsten Angaben 290 Menschen ums Leben kamen, schlägt der Staat unter der Führung von Präsident Recep Tayyip Erdogan nun mit aller Härte zurück. Wie Justizminister Bekir Bozdag am Sonntag mitteilte, wurden bisher 6000 Menschen festgenommen: "Die Zahl wird noch steigen, die Säuberungsaktionen werden fortgesetzt." Die Stimmung im Land ist extrem aggressiv, Erdogan-Anhänger zeigen sich weiter gewaltbereit, immer wieder tauchen neue Fotos von gefolterten Soldaten auf. Die Welt verurteilt den vereitelten Putsch, sorgt sich nun aber um die Demokratie in dem Land.

Eines steht nach dem gescheiterten Putsch fest: Die Macht von Erdogan wird wachsen. So schrieb etwa die britische "Sunday Times": "Erdogan bietet sich nun eine Möglichkeit, mit seinem Regime die Menschenrechte und die Meinungsfreiheit noch stärker einzuschränken. Das wird die Türkei weiter vom Ziel einer EU-Mitgliedschaft entfernen, aber es bedeutet auch, dass die NATO-Verbündeten, unter ihnen Großbritannien, gute Miene zum bösen Spiel machen müssen. Die Türkei ist strategisch und politisch wichtig."

Erdogan: "Werden Virus aus staatlichen Institutionen vertreiben"
Der Staatspräsident präsentierte sich am Samstagabend dem Volk als Versöhner: "Wir werden es nicht zulassen, dass unser Land geteilt wird, wir werden ein Land sein. Wir werden lebendig und gesund sein, wir werden groß sein, alle zusammen sind wir die Türkei", sagte er. Am Sonntag sagte er in Richtung der Putschisten: "Wir werden das Virus aus allen staatlichen Institutionen vertreiben."

Präsident Recep Tayyip Erdogan bei der Pressekonferenz nach dem Putschversuch (Bild: AP)
Präsident Recep Tayyip Erdogan bei der Pressekonferenz nach dem Putschversuch

2700 Richter abgesetzt, 100 Staatsanwälte in Haft
Alles deutet darauf hin, dass Erdogan die Gelegenheit für einen großangelegten Rachefeldzug gegen seine Kritiker plant. Dem Militär und der Justiz stehen jedenfalls massive Eingriffe bevor. 2700 Richter wurden bereits abgesetzt, mehr als 100 Staatsanwälte festgenommen. Wie der Sender CNN Türk meldete, sei beispielsweise der Verfassungsrichter Alparslan Altan festgenommen worden. Aus Regierungskreisen hieß es zudem, dass auch sein Kollege Erdal Tezcan in Gewahrsam genommen wurde, wie zuvor schon zehn Mitglieder des türkischen Staatsrats und fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte. Der Chef der Richtergewerkschaft Yargiclar, Mustafa Karadag, sagte, nicht nur mutmaßliche Unterstützer des Putsches, sondern auch völlig unbeteiligte Kritiker Erdogans würden festgenommen.

Örtlichen Medienberichten zufolge wurden in Istanbul weitere 140 Richter und Staatsanwälte zur Fahndung ausgeschrieben. Diese werden der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und Beteiligung am Putschversuch beschuldigt, hieß es. Den Berichten zufolge sollen Wohnungen und Büros der Beschuldigten durchsucht werden.

3000 Militärangehörige bisher festgenommen
Laut Regierung wurden bisher außerdem fast 3000 Militärangehörige festgenommen - von einfachen Soldaten bis hin zu ranghohen Offizieren. Medienberichten zufolge wurden bei einer Razzia auf einem Armeestützpunkt in Denizli am Sonntag Brigadegeneral Özhan Özbakir sowie 51 weitere Soldaten in Gewahrsam genommen.

Militärberater Erdogans ebenfalls in Gewahrsam
Nicht ganz ins Bild dieser "Säuberungen" passt die Festnahme eines Beraters des Präsidenten. Laut der Nachrichtenangentur DHA befindet sich Oberst Ali Yazici in Gewahrsam. Wo er festgenommen wurde und was genau ihm vorgeworfen wird, ist noch unklar. Der türkische Nachrichtensender NTV berichtete, auch ein Berater des ehemaligen Staatspräsidenten Abdullah Gül sei festgenommen worden.

Auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik wurden laut einem Bericht der Zeitung "Hürriyet" ein General und mehrere weitere Soldaten festgenommen.

Offene Diskussion über Todesstrafe
Erdogan spricht bereits offen über die Wiedereinführung der Todesstrafe. "Es ist auch nicht nötig, sich dafür von irgendwoher eine Erlaubnis einzuholen. Dass jede Forderung bewertet, besprochen und diskutiert wird, ist in einem demokratischen Land ein Recht."

Bilder von Lynchjustiz und Folterszenen
Die bedingungslose Gefolgschaft seiner Anhänger ist ihm jedenfalls sicher. Wie berichtet, soll es bereits in der Putschnacht brutale Lynch-Szenen gegen Putschisten gegeben haben, wo Soldaten sogar die Kehle durchgeschnitten worden sein soll. Immer wieder tauchen neue Bilder von gefolterten Soldaten auf. Es sei nicht auszuschließen, dass Erdogan-Anhänger weitere Vergeltungsschläge gegen Regierungsgegner setzen.

(Bild: Screenshot/Twitter.com)
(Bild: Screenshot/Twitter.com)
Erdogan-Anhänger schlagen auf Putschisten ein (Bild: Screenshot/Twitter.com)
Erdogan-Anhänger schlagen auf Putschisten ein

Bereits in der Putschnacht ließen sich Hunderte Soldaten in Istanbul von Polizisten entwaffnen. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim bezeichnete die Putschisten "Landesverräter".

Video: Putschisten in der Türkei ergeben sich

Anhänger stehen bedingungslos hinter ihrem Staatschef
Als weiteren Treuebeweis hielten in mehreren Städten der Türkei Zehntausende Menschen in der Nacht auf Sonntag "Wachen für die Demokratie" ab. Türkische Medien berichteten von Siegesfeiern in Städten vom Westen bis zum Südosten des Landes. Bilder zeigen jubelnde und fahnenschwenkende Menschenmassen etwa in der Hauptstadt Ankara. Die Nachrichtenagentur Dogan sprach von etwa 75.000 Teilnehmern in der Stadt Adapazari im Nordwesten der Türkei. Auch in Wien marschierten am Samstag Tauende Erdogan-Anhänger durch die Stadt.

Verantwortlich für den Putschversuch machte Erdogan wie berichtet die Bewegung des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen und kündigte Vergeltung an: "Sie werden einen sehr hohen Preis für diesen Verrat zahlen." Gülen, nach einem schweren Zerwürfnis 2013 einer von Erdogans Erzfeinden, lebt in den USA und bestritt die Vorwürfe. Er verurteilte die Aktionen in einer Mitteilung scharf.

Erdogan (re.) macht Gülen für den Putschversuch verantwortlich. (Bild: AFP/KAYHAN OZER)
Erdogan (re.) macht Gülen für den Putschversuch verantwortlich.

Obama ruft zum "gesetzmäßigen Handeln" auf
Erdogan verlangte von den USA die Auslieferung oder Festnahme von Gülen. Wenn die USA und die Türkei tatsächlich strategische Partner seien, müsse US-Präsident Barack Obama handeln. Die USA würden Außenminister John Kerry zufolge einen türkischen Antrag auf Auslieferung Gülens prüfen. Kerry wies in einem Telefonat mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu Behauptungen über eine Verwicklung der USA in den gescheiterten Putschversuch energisch zurück. Diese seien "völlig falsch und schädlich für unsere bilateralen Beziehungen", hieß es in einer Erklärung des US-Außenministeriums. Obama rief alle Parteien in der Türkei zu "gesetzmäßigem Handeln" auf.

US-Präsident Barack Obama (Bild: APA/AFP/NICHOLAS KAMM)
US-Präsident Barack Obama

Normalisierung der Beziehungen zwischen Moskau und Ankara?
Der russische Präsident Wladimir Putin bezeichnete den Putschversuch bei einem Telefonat mit Erdogan als unzulässig und verfassungswidrig. Die Führung in Moskau sei prinzipiell gegen solche Gewalt gegen den Staat, sagte Putin am Sonntag nach Angaben des Kremls in Moskau. Putin habe Erdogan sein Beileid für die Opfer übermittelt, hieß es. Das Telefonat gilt auch als ein weiterer Schritt hin zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Moskau und Ankara. Das Verhältnis hatte sich nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets im November 2015 im syrischen Grenzgebiet durch die Türkei massiv verschlechtert. Zuletzt gab es aber eine Wiederannäherung.

(Bild: ASSOCIATED PRESS)

Kurz: "Europa muss Erdogan klare Grenzen aufzeigen" 
Österreichs Außenminister Sebastian Kurz rief im Vorfeld des Treffens mit seinen EU-Amtskollegen am Montag die türkische Regierung auf, nach dem gescheiterten Putsch den Rechtsstaat zu wahren. Es dürfe keine willkürlichen Säuberungsaktionen geben, keiiten müsse gelten. "Und zudem braucht es ein Bekenntnis der Türkei zur Beibehaltung der Abschaffung der Todesstrafe", hob der Außenminister hervor.

"Österreich wird beim Außenministerrat in Brüssel darauf drängen, dass Europa Präsident Erdogan ganz klare Grenzen aufzeigt. Denn der gescheiterte Putsch darf kein Freibrief für Willkür sein", betonte Kurz.

Außenminister Sebastian Kurz (Bild: APA/AUSSENMINISTERIUM/DRAGAN TATIC, AP)
Außenminister Sebastian Kurz

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