Nach einer Gehirnhautentzündung hat die 26 Jahre alte Michele keine Erinnerungen mehr. Lesen Sie das Protokoll einer Frau, die ihr Gedächtnis verloren hat.
Ganz am Anfang habe ich einfach irgendetwas erzählt. Was am ehesten hinkommen könnte. Ich wollte mich nicht rechtfertigen, wieso, weshalb, warum. Es ist nämlich kaum zu glauben, wie oft die Leute auf die Vergangenheit zu reden kommen. Sei es, weil dich jemand fragt, ob du gut in der Schule warst. Oder weil die Freundinnen über den ersten Kuss tratschen.
Fakt ist: Ich kann mich weder an das eine noch an das andere erinnern. Alles, was vor meinem 16. Lebensjahr passiert ist, ist weg. Meine Kindheit ist komplett gelöscht. Nur durch alte Fotos, mein Tagebuch von damals und die Erzählungen meiner Mama kenne ich Details aus meiner Vergangenheit.
Gehirnhautentzündung durch Herpesviren
Es ist ziemlich genau zehn Jahre her, als ich in der Nacht plötzlich 40 Grad Fieber bekommen und Hunderte Käfer auf meinem Schlafzimmerboden gesehen habe. Halluzinationen. Meine Eltern sind damals sofort mit mir ins SMZ Ost gefahren. Dort kam ich auf die Intensivstation. Gehirnhautentzündung. Ausgelöst durch Herpesviren. Eine Fieberblase, die andere an den Lippen kriegen, hab ich direkt am Hirn gehabt. Die Ärzte sagten damals, dass ein Lotto-Sechser wahrscheinlicher ist, als diese Krankheit zu kriegen.
Musik löst bis heute Positives in mir aus
Noch in derselben Nacht bin ich in ein künstliches Koma versetzt und erst sechs Wochen danach wieder aufgeweckt worden. In der Zwischenzeit hatte man mir den Kopf aufgeschnitten, um ein Blutgerinnsel zu entfernen, und einen Luftröhrenschnitt durchgeführt, weil ich nicht mehr selbstständig atmen konnte. Aber davon habe ich nichts mitgekriegt. Nur die Musik, die mir meine Mutter vorgespielt hat, zum Beispiel "Griechischer Wein", die löst bis heute Positives in mir aus. Letztlich bin ich aber als geheilt entlassen worden und durfte nach Hause.
Region im Gehirn abgestorben
Doch als meine Eltern die Tür aufgesperrt haben, stand ich in einer mir völlig fremden Wohnung. Ich wusste nicht, wo mein Zimmer ist, und ich habe auch die Küche nicht gefunden. Dann hat mir meine Mutter Fragen über die Schule, meine Lehrer oder Urlaube gestellt. Ich konnte keine davon beantworten. Alles, was vor dem Spital war, ist weg.
Das älteste Bild in meinem Gedächtnis ist eines von der Reha. Die Ärzte haben mir erklärt, dass in meinem Gehirn eine Region abgestorben sei, die die Bilder speichert. Ansonsten ist mein Geisteszustand wieder voll da.
Drei Jahre nach der Krankheit habe ich dann meine Lehre abgeschlossen. Bei der Stadt Wien. Mit Note eins! Heute arbeite ich bei der MA 6. Übrigens: Seit vier Wochen bin ich frisch verliebt. In Manuel. Er ist Koch und hat mich Gott sei Dank nicht gefragt, welches Gericht ich als Kind am liebsten gegessen habe. Stattdessen ist ihm meine Narbe aufgefallen. Volltreffer! Denn an diesem Punkt beginnt meine Geschichte.
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