Der heutige Nationalfeiertag fällt in eine Phase dichten politischen Nebels. Die Regierungskoalition wankt seit Wochen bedenklich und "die Europäische Union ist an einem Tiefpunkt", diagnostizierte Bundeskanzler Christian Kern am vergangenen Sonntag. Dazu kommen Ängste vor islamistischem Terror, Arbeitslosigkeit, wirtschaftlichem Abstieg und eine erschütternde Planlosigkeit der Eliten.
Halt, Stolz und Identität geben den Österreichern immer noch unsere schönen Berge und Seen, die Neutralität, die gemütliche Lebensart, die gute Küche und die berühmten Musiker der Vergangenheit. Dieses Ranking ist das seit Jahrzehnten unveränderte Ergebnis regelmäßig durchgeführter Umfragen zur Lage der Nation. In die Zukunft Gerichtetes fand und findet sich dabei nicht. "Es wird schon werden", prägte als Leitmotiv seit jeher Österreichs Weg der Zuversicht. Unsere heimliche Hymne ist und bleibt seit Ende des 19. Jahrhunderts die Strophe aus der "Fledermaus": "Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist."
Es war ein großer Moment. Triumphierend reckte Vizekanzler Reinhold Mitterlehner am vergangenen Freitag in der Wiener Aula der Wissenschaften ein Stück schwarzen Gummis in die Höhe: ein Puck für kanadische Eishockeymannschaften. "Der Puck ist made in Europe!" - als wäre das ein Beweisstück der Wichtigkeit des CETA-Freihandelsvertrags mit Kanada. Das ist doch außergewöhnlich für einen ÖVP-Chef und Wissenschaftsminister: Europa mit einer Rede auf ein 2,54 Zentimeter mal 7,62 Zentimeter kleines Kautschukgeschoß zu schrumpfen.
Zweifel an Österreichs Überlebensfähigkeit
Wer Österreich sozialpartnerschaftlich entschleunigen kann, der schafft es, auch Europa zu verzwergen. Und es ist keine Bemerkung am Rande, dass der Eishockey-Puck, den Mitterlehner präsentierte, nicht in Österreich hergestellt wird, sondern in Katerinice, einer Gemeinde in Mähren. Der Hinweis ist wichtig, weil diese Region Tschechiens bis zum Zerfall der 630-jährigen Herrschaft des Hauses Habsburg einmal Österreich war. Danach begann das Schlamassel mit dem österreichischen Minderwertigkeitskomplex, an dem sich Historiker und Literaten bis heute abarbeiten: die Geschichte vom Riesenreich, das zum Kleinstaat wurde.
Die frühen Jahre der Republik waren keine guten. Noch in den 1960er-Jahren erzählte Österreichs erster und vorerst letzter Ersatzkaiser, Bruno Kreisky, dass nur wenige an die Überlebensfähigkeit des Landes geglaubt haben - ein Gedanke, der manche bis in die Gegenwart verfolgt. Noch Ende der 1980er-Jahre sagte der damalige FPÖ-Chef Jörg Haider, dass Österreich "eine ideologische Missgeburt" sei.
Kindheit wie ein Eimer über den Kopf
Die schwierige Kindheit der österreichischen Demokratie schwebt wie ein böser Geist über der reifer gewordenen Republik. Der Schriftsteller Heimito von Doderer, dessen 50. Todestag heuer begangen wird, schrieb symbolisch über dieses Dilemma: "Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will."
Nun wäre es an der Zeit, dass wir uns von der Kindheit befreien. Auf dem Weg zur Erkenntnis ist jedoch zuerst die Scham zu überwinden. Der österreichische Weg zur Selbsterkenntnis verläuft daher über Umwege. Das liegt an der vordergründigen Harmonie, die wir hierzulande pflegen. Der Kärntner Schriftsteller Peter Turrini hat unser Wesen in einer Gedichtzeile erfasst: "Es ist so schwer, die Wahrheit zu sagen, wenn man gelernt hat, mit der Freundlichkeit zu überleben."
Ungerecht behandelt, getreten, unterdrückt
Damit jeder freundlich bleiben kann, wünschen sich nicht wenige einen da oben, der weniger freundlich den Weg weist. Da sind wir wie Gruppenreisende, die jemanden auswählen, der vorangeht. Wenn der dann die falsche Richtung einschlägt, ist das halb so schlimm, weil man selber nicht daran schuld ist, sich verlaufen zu haben, sondern nur dem an der Spitze gefolgt ist.
Laut Umfragen besteht eine immer stärkere Sehnsucht nach einem "starken Mann", der sich nicht um ein Parlament und nicht um Wahlen scheren muss. Das alles ist nicht wirklich neu. Der Psychoanalytiker Erwin Ringel schrieb vor 32 Jahren: "Der Österreicher ist durch nichts so leicht zu fangen, als wenn man ihm sagt: 'Du bist ein ungerecht Behandelter, ein Getretener und Unterdrückter, ich aber werde kommen und dich aus dieser Not und aus diesem Elend befreien.'"
"Außen rot, innen braun und immer ein bisschen betrunken"
Das ist nur die eine Seite. Auf der anderen Seite geben sich viele der perversen Lust zur Selbstgeißelung hin. Erst unlängst wieder las der Kabarettist Erwin Steinhauer in Österreichs wichtigster ORF-Nachrichtensendung, den "Seitenblicken", unter großem Gejohle das Zitat des vor 27 Jahren verstorbenen Dramatikers Thomas Bernhard, wonach die Mentalität der Österreicher einem Punschkrapfen gleicht: "Außen rot, innen braun und immer ein bisschen betrunken." Das mag ein ausgewähltes heimisches Publikum sehr, weil der Nazi schließlich immer der andere ist.
Dabei ist die Sehnsucht nach absonderlichen Führern keine spezifisch österreichische Eigenheit, sondern eine zutiefst menschliche. Die jüngeren Beispiele reichen von Italiens Silvio Berlusconi bis zu Amerikas Donald Trump. Auch beim Antisemitismus handelt es sich um kein urösterreichisches Übel mit Alleinstellungsmerkmal. Den gab es quasi immer schon. Während etwa in Österreich der Nationalsozialismus tobte, marschierte im Februar 1939 im Madison Square Garden in New York der "German American Bund" mit dem Hitlergruß auf. Und die heute von Bundeskanzler Christian Kern wieder aufgenommene Idee des von 1933 bis zu seinem Tod 1945 amtierenden US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt für Wirtschafts- und Sozialreformen mit einem "New Deal" wurde in den USA mit scharfer antisemitischer Rhetorik als "Jew Deal" ("Juden-Deal") verspottet.
Kein Anspruch auf besondere Schwächen
Der 1922 in Wien geborene, 1938 vor den Nazis in die USA geflüchtete langjährige Chefredakteur des "Time"-Magazins und US-amerikanische Botschafter in Österreich, Henry Anatole Grunwald, sagte 1989 in einem "profil"-Interview, dass "Österreich ein sehr kompliziertes Land" sei. Jedoch könne es keinen Monopolanspruch auf besondere Schwächen erheben. Grunwald verwies auf den Fremdenhass in England und Frankreich, als diese ihre Einwanderungswellen hatten, und meinte, dass man Österreich nicht besonders hervorheben sollte. "Ich möchte jetzt weder Frankreich noch England beleidigen, ich will nur sagen, dass Österreich nicht alleine steht mit der Sorge um diese Gefühle."
Jetzt jedoch bröckelt der Glaube daran, dass das Land im Vergleich zu den anderen ganz gut dasteht, wie das vor allem Regierungspolitiker und vor allem zu Feiertagen gerne sagen. Jetzt ist rund um uns die Rede vom Ende Europas und vom Ende einer Politik, die wisse, wohin sie wolle. Von Ungarn bis Polen entstehen illiberale Demokratien. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Kriegs wächst die Enttäuschung über die nicht den Erwartungen entsprechenden Lebensstandards. Österreich trotzt den Entwicklungen wacker. Es bleibt dem Präsidenten der Wirtschaftskammer, Christoph Leitl, vorbehalten, zu erklären: "Österreich ist abgesandelt."
Politischer Paukenschlag ist keine Lösung
Ein politischer Paukenschlag kann nicht die Lösung sein. Das könnte zum Gegenteil eines Befreiungsschlags führen. Das dringende Bedürfnis nach radikaler Veränderung haben wenige. Der Stolz der Österreicher auf die Heimat soll größer geworden sein. Das mag auch am Flüchtlingsstrom liegen. Denn es wird nun klarer, welchen Wert es hat, in Österreich leben zu dürfen.
Wenn der Kanzler von "Start-up"-Initiativen für junge Unternehmer spricht, wird das vielleicht nicht der gewaltige Sprung nach vorne sein. Aber alleine das Wort "Start" signalisiert: Wir machen weiter. Darin steckt mehr Zuversicht als eine langsame Fahrt im Kreis mit einem in den Rückspiegel gerichteten Blick.
"Bin bereit, Österreich zu verteidigen"
Manchmal verlangt es Abstand von der Heimat, um die Heimat in einem anderen Licht zu sehen. Einer der ganz großen heimischen Schriftsteller der Gegenwart, Peter Handke, der überwiegend in Frankreich lebt, sagte vor einiger Zeit in einem Interview: "Früher konnte ich mit der Bundeshymne nichts anfangen. Jetzt muss ich aufpassen, dass mir nicht die Tränen kommen, wenn ich sie als Handy-Klingel höre. Ich mache aber einen Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus. Nationalismus heißt: Mein Land ist besser als alle anderen. Patriotismus heißt, für ein Land aufzutreten, wenn es herabgesetzt wird. Dann bin ich bereit, Österreich zu verteidigen."
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