Ganz nah und doch weit weg: So empfindet Gabi die Beziehung zu ihrem Kind. Vanessa ist Autistin. Lesen Sie das berührende Protokoll einer Mutter, deren Tochter in einer fremden Welt zu Hause ist.
Ein Planet. Fremd und unbekannt. Es gibt dort keine Veränderungen. Es gibt weder extreme Gerüche noch Lärm oder grelles Licht. Jede Minute ist durchstrukturiert. Ich stelle mir vor, dass meine Tochter von dort kommt. Denn mit dieser Welt, meiner Welt, in die sie hineingeboren wurde, kommt sie schwer zurecht.
Ihre Geschichte ist zugleich meine Geschichte. Denn seit dem Zeitpunkt ihrer Geburt sind wir enger miteinander verstrickt, als uns guttut und doch so weit voneinander entfernt. Ich war eine erfolgreiche Maskenbildnerin am Theater an der Wien, als ich schwanger wurde. Vanessa war ein Wunschkind. Es war schnell klar, dass ich nie wieder von der Karenz zurückkehren würde. Denn meine Tochter sollte zeitlebens auf meine Fürsorge angewiesen sein.
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"Generalisierte Entwicklungsstörung" lautete damals die Diagnose. Das heißt nichts anderes, als dass sie geistig behindert ist. Sein soll. Ich mochte von Anfang an nicht daran glauben. Es stimmt schon. Sie konnte lange nicht laufen und sprechen. Und ihr Verhalten - mittlerweile ist sie 20 Jahre alt - wirkt auf Außenstehende alles andere als normal: Sie kann sich an keinem Gespräch beteiligen. Gleichzeitig reagiert sie nervös und hektisch, wenn andere sich unterhalten. Oft stelle ich die Stoppuhr, damit sie sich orientieren kann, wie lange ich noch mit jemandem reden werde.
Freunde und Bekannte haben sich zurückgezogen
Dass ich quasi nicht mehr auf andere Menschen eingehen kann, stellte nicht nur die Ehe mit meinem Mann auf eine harte Probe. Auch viele Bekannte und Freunde haben sich zurückgezogen. Und meiner jüngeren Tochter Viola fehlt es leider bis heute an der notwendigen Aufmerksamkeit.
Der Zug verspätet sich. Die Reittherapeutin ist krank. Das Telefon klingelt, aber keiner ist dran. Die Nachbarin wechselt ihr Parfüm. Aus einem Lokal dröhnt Rockmusik. Es regnet, obwohl ein Schwimmbadbesuch geplant war. Einige Beispiele, die Vanessa aus der Fassung bringen können. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite meines Kindes habe lange nur ich gesehen. Wenn wir zum Beispiel mit dem Auto nach Wien fahren, dann lotst sie uns wie ein Navi durch den Großstadtdschungel. Sie muss nur einmal an einem Ort gewesen sein und kann sich an jede Ecke, jeden Baum, jedes Schild erinnern.
Sie hatte immer dieses fotografische Gedächtnis
Besuchen wir Verwandte, bemerkt Vanessa, wenn ein Bild, eine Deko-Figur oder die Blumenvase verrückt wurde. Sie erkennt auch, wenn der Trafikant ein neues Hemd trägt. Sie hatte immer dieses fotografische Gedächtnis. Inselbegabungen. So nennt man diese Teil-Talente bei Menschen mit Entwicklungsstörungen. Das hat mir vor zwei Jahren ein Neurologe aus St. Pölten gesagt.
Er war auch der Erste, der erkannt hat, dass Vanessa eine Autistin ist. Mein Mutterinstinkt hat mich also nicht getäuscht. Ich hatte ja schon immer meine Zweifel am Befund "geistig behindert". Ich konnte es eben nur nicht beweisen.
Jetzt warten wir auf einen Platz in einer Wohngemeinschaft für Autisten in Wien. Es gibt dort spezielle Förderungen. Vielleicht kann Vanessa dort lernen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ein fremder Planet ist das Gott sei Dank nicht, aber eine Chance für uns. So kann eine jede von uns künftig ihre eigene Geschichte erzählen.
TIPPS UND INFOS
Brigitte Quint, Kronen Zeitung
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