Lebendig begraben unter einer Lawine: 45 Minuten lang kämpft der Tiroler Peter Wurzer gegen den kalten Tod. Schließlich wird er doch noch gefunden. Lesen Sie das Protokoll eines Mannes, dem das Leben einen zweiten Geburtstag geschenkt hat.
Allmacht und Ohnmacht. Die Ehrfurcht vor der Natur. Demut. Dankbarkeit. Das sind die Schlüsselbegriffe meines Schicksalstages. Es war der 4. März 2016.
7.30 Uhr: Im Radio sagen sie die Lawinenwarnstufe durch. Heute ist zwei. Das heißt mäßige Gefahr.
8 Uhr: Ich schaue aus dem Fenster. Die Sonne scheint, der Schnee glitzert, die Sicht ist gut. Ich bin euphorisch.
9 Uhr: Ankunft im Skigebiet Obergurgl. Ich sause viermal die präparierten Pisten hinunter.
11 Uhr: Mit einer Bekannten sitze ich in der Gondel. Von oben entdecken wir einen unberührten Hang. Wir beschließen hineinzufahren, um eine lässige Spur zu ziehen. Wir queren die Route zur Lawinenverbauung. Sie fährt zuerst los.
11.35 Uhr: Als ich wegwedeln will, reißt es mir die Füße weg. Schleudergang. Das Schneebrett katapultiert mich mit voller Wucht nach unten. Mit Helm und Ellenbogen schlage ich gegen einen Felsvorsprung. Höllische Schmerzen.
11.45 Uhr: Stopp. Stille. Totenstille. Es ist stockfinster. Auf dem Bauch liegend stecke ich im Schnee. Kopf und Arme hängen nach unten. Meine Beine sind weggestreckt wie ein U-Hakerl. Ich werde ohnmächtig.
11.50 Uhr: Ich wache auf. Einbetoniert. Ich wippe den Kopf nach vorne, dann nach hinten. Einige Zentimeter. Mehr geht nicht. Ich bin lebendig begraben.
11.55 Uhr: Der Gedanke, dass ich keinen Lawinenpiepser dabei habe, ist allmächtig. Panik.Ich schnappe nach Luft, stelle mich auf den Tod ein12 Uhr: Ich versuche mich zu beruhigen. Wer könnte die Lawine gesehen haben? Oben fährt die Gondel, weiter hinten ist ein Lifthäusl
12.10 Uhr: Ich verliere wieder das Bewusstsein.
12.15 Uhr: Wieder wach. Ich höre einen Hubschrauber. Ich versuche mich freizuschaufeln. Es geht nicht. Anstrengung. Ich schreie. Zweimal. Mehr schaffe ich nicht. Ich habe nicht mehr genug Sauerstoff.
Haben Sie auch ein Schicksal gemeistert und können damit anderen Mut machen? Dann schreiben Sie bitte an: brigitte.quint@kronenzeitung.at
12.20 Uhr: Die Kälte wird immer unerträglicher. Meine Finger und Zehen erstarren. Die Nässe kriecht durchs Gewand. Ich zitterte. Erneut werde ich ohnmächtig.
12.25 Uhr: Ich schnappe nach Luft. Ich stelle mich auf den Tod ein. Mein Geist will kämpfen, mein Körper will aufgeben. Angst. Gewissheit. Mein Schicksal liegt nicht mehr in meiner Hand.
12.30 Uhr: Stich. Schritt vor. Stich. Sondieren. Ich höre die Stimmen der Retter. Ich wimmere. Keiner hört mich.
12.31 Uhr: Eine Sonde trifft meinen Oberschenkel. Hunde beginnen zu buddeln. Ich höre die Schaufeln, die mich ausgraben.
12.35 Uhr: Ein Ruck. Männer ziehen mich heraus. Eine Trage. Jemand schneidet meine Kleidung auf, wickelt mich in Wärmefolie. Eine Infusionsnadel mit Schmerzmittel wird gestochen.
12.45 Uhr: Der Hubschrauber startet. Spital.
Zwei Tage später: Ich werde entlassen. Bis auf meinen ausgerenkten Ellenbogen ist mir nichts passiert. Eine Psychotherapie lehne ich ab. Ich will alleine damit fertig werden.
Februar 2017: Obergurgl. Ganz bewusst fahre ich ausgerechnet hier Ski. Mein Erlebnis mit der Lawine hat mich etwas über das Leben gelehrt: Es mag eine Situation noch so ausweglos erscheinen Hilfe, Rettung kommt manchmal direkt aus dem Nichts ...
INFOS UND FAKTEN:
Brigitte Quint, Kronen Zeitung
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