Meine Geschichte

Plötzlich blind: “Ein Gefühl ausgeliefert zu sein”

Meine Geschichte
03.05.2017 17:00

Blind! Nach einem Behandlungsfehler verliert Willi Rumpelmayer sein Augenlicht. Ein Stück Holz gibt ihm den Lebensmut zurück. Sein Protokoll.

Schnitze dein Leben aus dem Holz, das du hast. Das hat Tolstoi einmal gesagt, der berühmte Schriftsteller. Wenn ich diesen Spruch höre, dann muss ich schmunzeln. Denn es gab eine Zeit in meinem Leben, da dachte ich, ich hätte alles verloren. Doch dann habe ich ein Stück Holz genommen und angefangen, es zu bearbeiten. Als Blinder. Das hat mir die Augen geöffnet.

Mein Schicksalstag war der 19. Juli 1988. Ein Dienstag. Ich war daheim und habe im Garten herumgewerkelt. Als ich unseren Nachbarn, er ist Arzt, habe heimkommen sehen, bin ich rüber zu ihm. Ich hatte Schmerzen in der großen Zehe und gehofft, er habe ein Mittelchen dagegen.

Der 69-Jährige mit Sohn Günther auf dem Großglockner (Bild: Klemens Groh)
Der 69-Jährige mit Sohn Günther auf dem Großglockner

"Nach und nach ist alles dunkel geworden"
"Das ist die Gicht", hat er damals gemeint und mir ein paar Tabletten mitgegeben. Innerhalb der nächsten Tage ist dann an einigen Stellen an meinem Körper die Haut abgeblättert. Zuerst habe ich mir nichts dabei gedacht, aber es wurde immer schlimmer. Zehn Tage später bin ich ins Spital. Dort hat man dann festgestellt, dass sich auch die Schleimhäute und die Bindehaut der Augen ablösen. Nach und nach ist alles dunkel um mich herum geworden. Bis auch der letzte Lichtbalken erloschen ist.

Haben Sie auch etwas Ungewöhnliches erlebt und können damit anderen Mut machen? Bitte schreiben Sie mir: brigitte.quint@kronenzeitung.at 

Der 69-Jährige mit Redakteurin Brigitte Quint (Bild: Klemens Groh)
Der 69-Jährige mit Redakteurin Brigitte Quint

Ich hatte Medikamente gegen eine Krankheit eingenommen, die ich nicht hatte. Das hat mir meine Sehkraft genommen. Für den Rest meines Lebens. Ich lebe in einem 200-Seelen-Dorf im Waldviertel. Seit Generationen wohnen dort die Leute Tür an Tür. Wie meine Familie mit dem Landarzt. Man bemüht sich um ein gutes Verhältnis. Warum ich das erzähle? Hätte ich einen Groll gehegt gegen den Arzt von nebenan oder wäre ich auf Vergeltung aus gewesen - ich hätte wegziehen müssen von daheim. Doch um nichts in der Welt hätte ich in dieser Situation meine vertraute Umgebung, meine Heimat aufgegeben.

"Er war fahrlässig, aber wollte mir nicht bewusst schaden"
Drei Verhandlungen gab es trotzdem, um das Geschehene rechtlich zu dokumentieren. Da wurde der Arzt auch schuldig gesprochen. Weiter klagen und damit seine Zulassung gefährden, das hätte ich nicht wollen. Ich wünschte mir nur mein Augenlicht zurück. Ein Gericht hätte mir das auch nicht geben können. Ich habe dem Mann vergeben. Sogar schnell. Er war fahrlässig, aber wollte mir nicht bewusst schaden. Aber meinen Zustand einfach hinnehmen, das konnte ich nicht.

Willi Rumpelmayer in seiner Werkstatt (Bild: Klemens Groh)
Willi Rumpelmayer in seiner Werkstatt

Ich durfte nicht mehr als Eisenbahner arbeiten, was ich gern getan habe. Stattdessen war ich daheim auf mich zurück geworfen. Manchmal habe ich gezittert vor Wut, dann wieder gebibbert vor Angst oder diese Ohnmacht gespürt. Tief in mir drin. Es ist das Gefühl, ausgeliefert zu sein.

Alte Holzgarnitur brachte die Wende
Jahre hat das angedauert. Bis ich im Schuppen auf eine alte Holzgarnitur von meinem Schwiegervater gestoßen bin. Jawohl, gestoßen. Ich bin mit meinen Fingerspitzen drübergeglitten, habe am Material gerochen und draufgeklopft. Ich konnte regelrecht spüren, wie die Bank aussieht.

Der blinde Tischler beim Fräsen - gerade arbeitet er an einem Hocker. (Bild: Klemens Groh)
Der blinde Tischler beim Fräsen - gerade arbeitet er an einem Hocker.

Am nächsten Tag hat mir meine Frau ein Stück Holz gebracht. Ich habe angefangen, es zu bearbeiten. Hobeln, verleimen, sägen, schleifen - nur das Zuschneiden hat Maria gemacht. Bis heute. Mittlerweile habe ich Dutzende Bänke, Leiterwagen, Puppenbetten und Hocker hergestellt. Bei der Tischlerarbeit verlasse ich mich nur auf mein Gespür und mein Bauchgefühl. Oder um es mit Tolstois Worten zu sagen: Ich habe mein Leben neu geschnitzt, mit dem Holz, das ich hatte.

TIPPS UND INFOS:

  • In Österreich gelten 3000 Personen als blind, 101.000 als hochgradig sehbeeinträchtigt.
  • Wie bei anderen Behinderungsarten sind Frauen häufiger betroffen als Männer (4,3 Prozent versus 3,4 Prozent).
  • Hinweise für Betroffene sind auf www.blindenverband.at durch akustische Texte abrufbar.
  • Auf www.anderssehen.at erzählen blinde und sehbehinderte Menschen über ihren Alltag.
  • Willi Rumpelmayer hatte ein Medikament gegen Gicht eingenommen, das den Harnsäurespiegel senken sollte. Dieser war aber normal. So entstand die folgenschwere Wechselwirkung.

Brigitte Quint, Kronen Zeitung

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