Reportage

Robo-Autos: Wenn der Computer am Steuer sitzt

Elektronik
06.05.2017 08:00

In 15 Jahren werden selbstfahrende Autos auf den Straßen wohl einfach dazugehören. Dabei kommen auch Roboter-Wagen in Situationen, die für Menschen lebensbedrohlich sein können. Forscher sind dabei, den rollenden Maschinen das Entscheiden in solchen Notsituationen beizubringen. Eine Reportage aus dem Silicon Valley.

Chris Gerdes denkt viel nach über Computer auf vier Rädern. Also über selbstfahrende Autos. Sogar dann, wenn er mit seinem Rennrad über die Hügel von San Francisco kurvt. Neulich hatte er dabei wieder so einen Geistesblitz: Die Autos, die ihn überholten, wichen großzügig aus, sie überfuhren die doppelt durchgezogene, gelbe Mittellinie. Würde ein selbstfahrendes Auto das auch tun, fragte er sich. Die kalifornische Straßenverkehrsordnung verbietet das Kreuzen der Mittellinie. Das Computer-Hirn im Fahrzeug würde sich wohl an die Regeln halten.

"Wir haben hier also ein gelerntes menschliches Verhalten, das gesellschaftlich sogar erwartet wird: Platz machen für Fahrradfahrer. Das aber eigentlich nicht legal ist", sagt Gerdes, Professor an der Elite-Universität Stanford. "Wie bringen wir einen solchen erwünschten Regelbruch dem autonomen Auto der Zukunft bei? Und macht die Mittellinie für ein Roboter-Fahrzeug überhaupt noch Sinn?"

(Bild: 2016 Getty Images)

Gerdes geht davon aus, dass ein autonomes Auto die Situation viel besser einschätzen kann als jeder Mensch. Der Wagen beobachtet die Umwelt mit seinen Sensoren und Kameras. Das Auto wird den Radfahrer also sowieso nur überholen, wenn ihm nichts entgegenkommt. Und es wird dem Radler so viel Raum wie möglich geben. Für Autos, die ohne Fahrer auskommen, werden Fahrbahnmarkierungen in Zukunft also womöglich ihre Bedeutung verlieren.

Gerdes forscht in der US-Technologie-Hochburg, im Silicon Valley, zu selbstfahrenden Autos. Er berät die kalifornische Straßenbehörde DMV und die Industrie. So hören, wie er erzählt, auch deutsche Autobauer wie Mercedes-Benz und Zulieferer wie Bosch auf seinen Rat.

Umgehen mit unerwarteten Situationen
Mit Doktoranden steht er regelmäßig an einer Teststrecke. Gerade untersuchen sie, wie Shelley, ein umgerüsteter Forschungs-Audi mit unerwarteten Situationen umgeht. Zum Beispiel damit, dass hinter jedem am Straßenrand parkenden Auto plötzlich ein erwachsener Fußgänger oder gar ein Kind hervorlaufen kann.

Wie können die Hersteller selbstfahrende Autos darauf vorbereiten? Wie programmiert man eine solche "Hab-Acht-Stellung" ins Fahrzeug? "Wir werden nie ein perfektes System bauen", räumt Gerdes ein. "Aber wir müssen versuchen, es so sicher wie möglich zu machen."

Bei der mühsamen Kleinarbeit an der Schaltzentrale der Zukunftsautos stellen sich die Forscher viele Fragen - manchmal sehr praktische, manchmal exotische. So bekam Gerdes vor einiger Zeit eine E-Mail von Patrick Lin, einem Philosophieprofessor in San Luis Obispo, gelegen auf halber Strecke zwischen San Francisco und Los Angeles. "Denken Sie auch über all die ethischen Fragen nach, die die autonomen Autos uns bringen werden?", wollte Lin von Gerdes wissen.

(Bild: APA)

Seitdem forschen die beiden Wissenschaftler gemeinsam. Der Philosoph entwirft ein Szenario, der Ingenieur sucht nach technischen Antworten. Zum Beispiel: Stellen wir uns vor, unser Auto kommt in eine Gefahrensituation und kann einem Crash nur noch entgehen, indem es nach links ausweicht. Dort würde der Wagen eine achtzigjährige Großmutter töten. Er könnte auch nach rechts umlenken, wo er in ein achtjähriges Mädchen steuern würde. Wie soll das Auto entscheiden?

Der Philosoph Lin sagt: "Es gibt nicht die einzig richtige Antwort hier, das liegt in der Natur des ethischen Dilemmas. Man könnte einerseits argumentieren: Die Großmutter hat schon ein erfülltes Leben hinter sich. Oder aber: Das Mädchen hat die flexibleren Knochen und wird den Zusammenstoß vielleicht eher überleben."

Der Autobranche selbst sind solche Fragen spürbar unangenehm. Die Hersteller betonen, Autos würden nicht dahin programmiert, zwischen verschiedenen Opfertypen zu unterscheiden. Vielmehr sollen die Fahrzeuge generell jede Kollision vermeiden. Erst recht, wenn es um ungeschützte Fußgänger und Radfahrer geht.

Mehr Sicherheit
Ein wichtiges Argument für mehr Sicherheit, wenn der Computer die Kontrolle übernimmt, ist die traurige Realität auf den Straßen: Sowohl in den USA als auch in Europa ist der Mensch am Steuer für die Masse der Unfälle verantwortlich: durch Fehler beim Abbiegen und Rückwärtsfahren, zu nahes Auffahren, aggressives Verhalten, Rasen, Alkohol am Steuer. So sind zum Beispiel in Deutschland 2015 rund 35 Prozent aller Verkehrstoten Opfer von Unfällen mit nicht angepasster Geschwindigkeit.

Experten erwarten, dass es durch autonome Fahrzeuge drastisch weniger Unfälle geben wird. Trotzdem fordert Philosophieprofessor Lin eine gesellschaftliche Diskussion über die ethischen Fragen: "Wie kommen die Programmierer zu ihrer Entscheidung? Haben sie die Konsequenzen durchdacht? Wenn nicht, wird jedes Gericht sie im Ernstfall als fahrlässig und moralisch unverantwortlich verurteilen." Und Lin rät, dass die Autoindustrie über ethische Fragen offen sprechen sollte. "Macht sie das nicht, wird dieses Informationsvakuum von anderen mit Spekulationen und Ängsten gefüllt werden."

Für einen Aufschrei sorgte im Mai 2016 der erste tödliche Unfall mit einem gerade vom Computer gesteuerten Tesla im US-Staat Florida. Der Wagen war nicht komplett autonom, er fuhr im sogenannten Autopilot-Modus. Dabei handelt es sich um ein ausgeklügeltes Assistenzsystem, das vom Fahrer bewusst angeschaltet werden muss und dann unter anderem Spur und Abstand halten soll. Und der Elektroautobauer fordert die Menschen auf, die Hände nie vom Steuer zu nehmen und die Verkehrslage im Blick zu behalten.

(Bild: YouTube)

Der Fahrer des Unfallwagens soll jedoch einen Film angeschaut haben, als das Auto in einen Lastwagen krachte, der die Straße querte. Die US-Verkehrsbehörde NHTSA stellte in ihrem Untersuchungsbericht fest, das Assistenzsystem habe wie zugesichert funktioniert, der Fahrer hätte sich aber nicht auf die Technik verlassen dürfen.

Auch Roboterwagen geraten in Unfälle - meistens fahren unachtsame Menschen auf die korrekt fahrenden Testautos auf. Anfang 2016 jedoch provozierte ein Google-Auto selbst einen Blechschaden, als es beim Umfahren eines Hindernisses einem Bus in den Weg steuerte.

Aktuell sorgt noch fast jeder Zwischenfall für Schlagzeilen. Experten erwarten, dass diese Phase mit mehr Wagen und immer besserer Technik vergehen wird. 2016 jedoch fürchteten sich drei von vier Amerikanern davor, von einem selbstfahrenden Auto durch die Gegend chauffiert zu werden. Auch bei den Deutschen ist die Skepsis groß. Nach einer Studie der Unternehmensberatung Deloitte haben auch hier 72 Prozent das Gefühl, die Sicherheit im autonomen Modus reiche noch nicht aus.

Bau der ersten Prototypen
Dabei war es ausgerechnet ein Deutscher, der die aktuelle Roboter-Wagen-Welle entscheidend anschob: Sebastian Thrun war Professor für Künstliche Intelligenz in Stanford und entwickelte dort den autonomen Wagen Stanley auf Basis eines VW Touareg. Mit ihm gewann Thrun 2005 die DARPA Grand Challenge, einen Wettbewerb des US-Verteidigungsministeriums. Daraufhin engagierte ihn Google, um für den Konzern den ersten Prototypen zu bauen.

Google startete 2009 Tests mit Roboter-Wagen auf der Straße und setzte mit dem Projekt auch etablierte Autokonzerne unter Zugzwang. Seit kurzem stellt die Google-Schwesterfirma Waymo Familien selbstfahrende Minivans für den Alltag zur Verfügung. Zu den ersten 100 gemeinsam mit dem Hersteller Chrysler umgebauten Fahrzeugen sollen 500 weitere hinzukommen.

(Bild: AP)

Auch die großen deutschen Autobauer forschen im Silicon Valley und sind mit Testlizenzen unterwegs. So will BMW 2021 gemeinsam mit Intel ein vollautonomes Auto auf die Straße bringen.

Der Mann für ethische Fragen im BMW-Konzern, Dirk Wisselmann, berichtet, dass man viel an Szenarien arbeite, wie sie der Philosoph Lin entwirft. Zugleich versichert er, dass ein Algorithmus - also eine Computerregel - mit Wertungen wie "Kind geht vor Großmutter" niemals in ein deuts immer nur lauten: Sachschaden vor Personenschaden."

Für Wisselmann ist das Szenario zunächst ein einfacher technischer Algorithmus: "Das Auto erkennt, dass vor ihm ein Objekt ist und wird daraufhin sofort bremsen und dann versuchen, noch nach links oder rechts auszuweichen."

Keine hohe Geschwindigkeit
Weil allgemein davon ausgegangen wird, dass die vollautonomen Wagen oft eher langsam unterwegs sein werden, sieht Wisselmann keine große Gefahr für Fußgänger. "Bei 30 Kilometer pro Stunde in der Innenstadt ergibt sich ein Bremsweg von etwa 4 Metern. Bei dieser Geschwindigkeit bleiben etwa 50 Zentimeter, die ein Auto nach links oder rechts ausweichen könnte. Also, wie realistisch ist dann ein solch dramatisches Szenario noch?"

Mirko Franke, Entwickler bei Bosch, sieht sich stärker in der Moral-Zwickmühle: "Technisch sind wir längst so weit, dass die Sensoren gut erkennen, was sich um das Auto herum tut. Eine etwa einen Meter große Person ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Kind, jemand mit einem Stock wahrscheinlich ein älterer Mensch. Wir könnten all das also heute schon berücksichtigen. Aber wir tun es nicht." Das Auto solle nur einen Fußgänger erkennen, mit dem ein Unfall zu vermeiden ist, und zum Beispiel mit einer Notbremsung auf ihn reagieren, egal ob Oma oder Kind.

(Bild: APA/GEORG HOCHMUTH (Symbolbild), thinkstockphotos.de)

"Wir weisen unsere Entwickler nicht an, in einer solchen Dilemma-Situation Schicksal zu spielen und hart rein zu coden, dass das Leben eines Kindes mehr wert sei als das einer älteren Frau", betont Franke. "Was ethisch ist und was nicht, ist eine gesellschaftliche Frage, das können wir nicht als Unternehmen festlegen. Deshalb begrüßen wir auch die Einrichtung einer Ethikkommission in Deutschland und warten hier auf die Empfehlungen."

Die Deutschen sind gewohnt vorsichtig. US-Wettbewerber wie Tesla und Waymo wollen sich zum Thema Ethik erst gar nicht äußern. Und dann sind da noch die vielen Start-ups. So wie Peloton. Die Firma entwickelt führerlose Lastwagen für das sogenannte Platooning. Dabei sollen Fahrzeuge automatisch gesteuert in Kolonne fahren. Ziel: den Treibstoffverbrauch und das Unfallrisiko zu senken.

Software-Entwicklerin Alison Chaiken sagt: "Ingenieure wollen coole Sachen bauen und kümmern sich nicht so sehr um die Konsequenzen." Die Frage nach dem Unfallszenario des Philosophen Lin erstaunt Chaiken: "Als ich meinen Führerschein gemacht habe, wurde ich niemals gefragt, wie ich mich im Ernstfall zwischen einem achtjährigem Mädchen und der achtzigjährigen Großmutter entscheiden würde. Und jetzt fahre ich schon 35 Jahre Auto und bin noch nie in einer solchen Situation gewesen."

Diskussionen über ethische Fragen
Typisch Silicon Valley, sagt dazu Stefano Marzani, italienischstämmiger Programmierer aus einem Auto-Start-up. Er hat jüngst eine Debattenrunde mit dem Namen "Tech Ethics" gegründet. Dazu lädt er Experten ein, um vor Gästen über brennende Fragen bei neuer Technik zu diskutieren. "Die Start-ups hier denken alle nur an Lokalisierung, Umgebungserkennung und Kostenfunktionen. Niemand von denen kümmert sich um die Moral. Aber das sollten sie, denn das wird eine Revolution", meint Marzani.

Nach den ersten Kollisionen wird über Roboter-Autos zumindest schon diskutiert. Dabei ist immer wieder vom großen roten Not-Knopf die Rede. Damit könnte der Mensch beim hochautomatisierten Fahren im Krisenfall die Kontrolle wieder übernehmen. Aber wie realistisch ist das? BMW hat es getestet: "Wir haben über 400 Fahrsimulationsversuche gemacht, wo wir Realfahrer - natürlich unter Laborbedingungen - mit solchen Situationen konfrontiert haben", sagt Wisselmann.

(Bild: AP)

"Man schickt den Fahrer dabei in die komplette Ablenkung, zum Beispiel liest er ein Buch, wenn plötzlich ein Warnton im Auto ertönt. Der Fahrer muss sich dann in kürzester Zeit orientieren und ein Manöver einleiten, also bremsen oder ausweichen", so der deutsche Experte. "Die Ergebnisse waren erstaunlich, die Schnellsten brauchten in einfachen Situationen nur zwei bis drei Sekunden."

Stanford-Professor Gerdes hält menschliches Eingreifen dagegen für keine gute Idee. "Die meisten Unfälle werden heute dadurch verursacht, dass wir Menschen falsch auf unvorhergesehene Situationen reagieren." Mit dem Notfallknopf bekomme man die Kontrolle zum schlechtestmöglichen Zeitpunkt. "Nein, das Auto sollte seine eigenen Entscheidungen treffen können oder zu einem sicheren Stand kommen."

Sein Philosophen-Freund Lin bleibt skeptisch. Einerseits könne der Computer in Gefahrenlagen Unfälle vermeiden. Andererseits bedrohe das Roboter-Auto die menschliche Würde: "Wenn wir die Entscheidung über Leben oder Tod dem Computer überlassen, schließen wir uns selbst von jeglichem weiteren Nachdenken darüber in Zukunft aus."

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