Ängstlich blickt die dunkelblonde Frau mit den großen traurigen Augen zur kleinen Türe an der Rückseite des Verhandlungssaales. Die Apothekerin (34) aus Syrien wartet, dass jener Schlepperchef zur Anklagebank geführt wird, der den Tod ihres Mannes und weiterer 70 Flüchtlinge zu verantworten hat. Einen grausamen, qualvollen und langsamen Tod, wie der Staatsanwalt betont. Was die Frau dann sieht, muss sie schockieren: Hämisch grinsend betritt der 30-jährige Afghane die Szene.
Schon um sieben Uhr Früh bildet sich vor dem Gericht von Kecskemet in Ungarn eine Warteschlange. Der Gerichtssaal für den Massenmord-Prozess fasst aufgrund mehrerer Dolmetscher-Kabinen nur 69 Zuschauer, und da will keiner draußen bleiben.
Witwe wollte Chef der Schlepperbande in die Augen sehen
Eine der ersten ist Nahed Alaskar (34, im Bild unten), deren Mann in dem Kühl-Lastwagen gestorben ist. Sie ist aus Wien hierher gekommen und will, wie sie im "Krone"-Interview erklärte, jenem mutmaßlichen Chef der Schlepperbande in die Augen sehen, den sie Ende August 2015 telefonisch um einen Hinweis auf das Schicksal ihres Mannes anflehte. Doch Samsooryamal Lahoo gab sich ahnungslos. Dabei wusste er, dass Hassan Al-Damen, ein 37-jähriger Universitätsdozent aus Damaskus, längst tot war.
Ins Gericht nach Kecskemet sind hauptsächlich ausländische Reporter gekommen - aus Österreich, Deutschland, der Schweiz, den USA und sogar aus dem arabischen Raum. Den ungarischen Medien ist der Prozess um den Tod der 71 Flüchtlinge hingegen zunächst keine große Schlagzeile wert. Um 6 Uhr war im ungarischen Nachrichtensender "Hir TV" der Prozessauftakt nicht zu finden. Der Auftritt der englischen Schauspielerin Keira Knightley vor wenigen Tagen in der Stadt war da schon etwas anderes. Dabei gilt das Drama bei Parndorf im Burgenland, wo die Leichen gefunden wurden, als Trendumkehr in der europäischen Flüchtlingspolitik.
In der 100.000-Einwohner-Stadt, 90 Kilometer südlich von Budapest, wird verhandelt, weil hier jener Kühlwagen gekauft worden ist, in dem die Flüchtlinge erstickten. Und im Gerichtsbezirk, der bis zur serbischen Grenze reicht, bestiegen die 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder auch das todbringende Gefährt.
Angeklagte bleiben mit Handschellen gefesselt
Gegen 8.30 Uhr werden zehn Angeklagte - einer befindet sich nach wie vor auf der Flucht - in den historischen Verhandlungssaal mit den großen Kronleuchtern geführt. In Handschellen, die ihnen auch nach dem Beginn des Prozesses nicht abgenommen werden. Im Gegenteil, an diesen Fesseln hängen starke Lederbänder, die das maskierte Wachpersonal nicht aus der Hand lässt. Die Bande zählt zum organisierten Verbrechen und gilt als gefährlich.
Gleich zu Beginn sorgt der Hauptangeklagte, der auch ein Transparent mit der Aufschrift "Afghane, Muslim. Kein Mörder, kein Peiniger. Das Recht wird das zeigen" vor sich hertrug, für einen weiteren Eklat: Er würde seinen Paschtu-Dolmetsch nicht verstehen, zetert er los und blockiert die weitere Verhandlung. Richter Janos Jadi beruhigt: "Langsam, jetzt kommt einmal die Anklage." Dann fleht der Afghane fast: "Ich möchte ein Geständnis ablegen." Kein Wunder: Ihm droht wegen 71-fachen Mordes lebenslange Haft. Der Umstand, dass vier seiner Opfer unter 14 waren, gilt nach ungarischem Gesetz als strafverschärfend.
Staatsanwalt Gabor Schmidt blendet dann im Zuge der stundenlangen Anklageverlesung in das Frühjahr 2015 zurück. Damals waren die Grenzen noch geschlossen, der Strom der Flüchtlinge - vor allem aus Syrien - schwoll stetig an. Es klingt zynisch, aber den Schleppern gingen fast die Fahrzeuge aus.
Schlepperchef kam selbst als Flüchtling nach Ungarn
Jene Bande, mit dem Afghanen Samsooryamal Lahoo an der Spitze, hatte in Ungarn ihren Sitz. Lahoo war im Jahr 2013 nach Budapest gekommen - als Flüchtling. Der Schutzstatus wurde ihm recht rasch zuerkannt. Diesen nutzte er aus, um seine kriminellen Geschäfte abzuwickeln. Die Vorgangsweise war immer gleich: Die Flüchtlinge wurden über die Balkanroute aus der Türkei über Griechenland nach Serbien gebracht. Komplizen, von denen nur die Spitznamen "Amin" und "Kairo" bekannt sind, sorgten für den illegalen Grenzübertritt. In einem Wald bei Szeged war Treffpunkt.
Hier warteten die Schlepper um Lahoo mit Transportfahrzeugen unterschiedlichster Bauart. Zuerst waren es normale Kastenwagen, einmal auch ein Lastwagen, dessen Laderaum mit einer Plane bedeckt war.
Transport endete im totalen Chaos
Auf diesem versuchten die Schlepper nicht weniger als 95 Flüchtlinge nach Deutschland zu bringen. Wegen zu großem Gewicht mussten 25 Menschen nach kurzer Fahrt wieder aussteigen. Sie wurden zurück in den Wald gelotst. Die restlichen "Reisenden" schnitten anschließend im Kampf um mehr Sauerstoff und eine kühle Brise die Planen auf, der Transport endete im Chaos. Um Derartiges in Zukunft zu verhindern, wurde bei einem Gebrauchtwagenhändler in Kecskemet um umgerechnet 7000 Euro jener Volvo-Kühlwagen gekauft, der für die Flüchtlinge zur tödlichen Falle werden sollte. Am 26. August kurz vor fünf Uhr Früh begann für die 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder die Fahrt. Wie Abhörprotokolle der Polizei belegen, waren schon nach 40 Minuten für den Fahrer, den Bulgaren Stoyanov Ivaylo (26), Klopfgeräusche zu hören.
Die Flüchtlinge riefen um Hilfe. Ivaylo meldete dies den Komplizen in den Begleitfahrzeugen und bat, die Türen öffnen zu dürfen. Doch Samsooryamal Lahoo verbat dies ausdrücklich mit hysterischem Gekreische, wie Abhörprotokolle der ungarischen Polizei, die erst in der Vorwoche veröffentlicht wurden, beweisen: "Türen nicht öffen, auch wenn sie sterben sollten. Sie sind Abschaum." Zusatz: "Und wenn alle tot sind, leg sie in einem Wald in Deutschland ab."
Wie Gerichtsmediziner später feststellten, dürfte für die meisten der Todeskampf zwei Stunden gedauert und etwa in der Nähe von Budapest zu Ende gewesen sein. Die drei stärksten Männer lebten drei Stunden bis kurz vor der Grenze. Sie dürften in der Nähe der Türen gestanden sein und so noch um ein paar Atemzüge mehr Sauerstoff bekommen haben. Deshalb fasst der Staatsanwalt zusammen: "Es war für die Opfer ein grausamer, qualvoller und langsamer Tod." Und alle vier Hauptangeklagten wussten das.
Welches Geständnis legt Bandenchef ab?
Die Fortsetzung des Prozesses folgt am Donnerstag mit ersten Einvernahmen - darunter auch jene des "Afghanen", wie der Bandenchef von seinen bulgarischen Komplizen genannt wurde. Man darf gespannt sein, was der 30-Jährige für ein Geständnis ablegt. Die Abhörprotokolle haben etwaige Verteidigungsstrategien mit Sicherheit enorm erschwert. Die Diskussion über falsche Dolmetscher zu Beginn des Prozesses erscheint vor diesem Hintergrund eher als taktisches Manöver. Tatsächlich wurde die Anklageschrift in eine der beiden Amtssprachen in Afghanistan, nämlich Paschtu, übersetzt. Und diese beherrscht der Hauptangeklagte sehr wohl, bestätigten die beiden gerichtlich beeideten Dolmetscher gegenüber krone.at.
aus Kecskemet berichten für die Kronen Zeitung:
Peter Grotter, Gabor Agardi
Mitarbeit: Gabriela Gödel
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