Ian Anderson ist Jethro Tull. "Die Musik ist praktisch komplett und die Texte sind zu 100 Prozent von mir geschrieben", sagte er der Musikzeitschrift "Rolling Stone". Für mehr als 30 verschiedene Musiker war die Band nur eine Durchlaufstation, Anderson blieb als einziger seiner Band treu. Am 10. August feiert der Musiker, Songwriter und Manager Geburtstag und geht danach auf Tour.
"Als ich ein Teenager war, hörte ich keine laute Rockmusik", verrät Anderson, der in Edinburgh aufgewachsen ist, dem "Rolling Stone". "Ich hörte Jazz und Blues und Folk." Seine Band ist so erfolglos, dass sie sich häufig umbenennt, um mehr Gigs zu bekommen. Schließlich werden sie vom legendären Marquee Club in London ein zweites Mal gebucht und der Name Jethro Tull bleibt kleben. Damit kokettiert Anderson bis heute. "Ich bin schuld am Identitätsdiebstahl und sollte dafür wirklich ins Gefängnis gehen", sagte er dem "Guardian". Denn Jethro Tull ist der Name eines britischen Agrarpioniers im 17. Jahrhundert, der vor allem durch seinen Kampf gegen Unkraut bekannt wurde.
Kultwerk
Die Band wird für ihre ungewöhnliche Mischung aus Progressive Rock, Jazz, Blues und Folk bekannt und schafft den Durchbruch 1969 mit dem Bluesalbum "Stand Up". Im April 1972 vereinigt Jethro Tull alles, was Fans jemals an Prog Rock liebten oder hassten in einem 44-minütigen Album, das aus einem einzigen Song besteht: "Thick As A Brick". Für viele eine Parodie des Genres, aber ein kommerzieller Erfolg. 2012 wird Anderson mit "Thick As A Brick 2" wieder darauf zurückkommen.
Doch selbst während ihrer Blütezeit zwischen 1968 und 1972 sind Jethro Tull nie eine klassische Rock-'n'-Roll-Band: Nach der Show gehen die Musiker in ihre Hotelzimmer und lesen noch ein Buch vor dem Einschlafen, denn um 8 Uhr morgens geht es wieder los. "Jüngere Bandmitglieder lernen schnell, dass es ein Job ist, keine Party", erklärte Anderson dem "Telegraph". Auch privat entspricht sein Leben so gar nicht dem eines Rockstars. Er unterstützt die anglikanische Kirche, ist seit mehr als 40 Jahren mit Shona verheiratet und lebt mit ihr in einem alten Landhaus mit Aufnahmestudio im Südwesten Englands.
Freund der ruhigen Töne
Anderson hasst laute Rockkonzerte, nach 20 Minuten langt es ihm meistens und er geht: "Du kannst gewaltig und dramatisch sein ohne ohrenbetäubende Dezibel", erklärte er. "Symphonieorchester schaffen das sehr gut. Beethoven konnte sich nicht auf einen 200-Watt-Verstärker verlassen." Anderson arbeitet selbst gerne mit Klassikensembles: Ende 2016 nahm er "Jethro Tull: The String Quartets" mit dem Carducci Quartett auf, teilweise im Gewölbe der Kathedrale von Worcester. Der Klassiker "Aqualung" wird zur Fuge, "Locomotive Breath" beginnt mit einem Cellosolo nach Bach. "Das hat ziemlich viel Spaß gemacht", gestand Anderson in einem Interview mit der Plattform Eon Music.
Seit ihrem Auftritt im Marquee Club haben Jethro Tull mehr als 30 Alben veröffentlicht und mehr als 60 Millionen Platten verkauft, zudem produzierte Anderson sechs Soloalben. Nach seinem 70. Geburtstag wird er in den USA mit "Jethro Tull" touren - österreichische Fans müssen sich indes noch gedulden. Zumindest heuer sind in der Alpenrepublik keine Auftritte geplant. Zuletzt spielte Jethro Tull in Österreich 2016 auf dem Lovely Days Festival in Eisenstadt und auf der Burg Clam. In einem Interview mit der "Krone" erinnerte er sich während des Lovely Days auch an weniger prickelnde Erlebnisse im Alpenstaat. "Rund um 1970 traf ich dort einen jungen TV-Journalist, der ziemlich überrascht über meine politische Offensive war. Offenbar teilte er meine Meinung nicht und war enttäuscht, dass ich andere Ansichten hatte. Ich bin jedenfalls kein Linksradikaler."
Hass im Netz
Dass Anderson politisch schwer zuordenbar ist, bewies er schon nach der Brexit-Entscheidung, indem er sich nicht klar positionierte. "Schlimm ist viel mehr, dass die wählenden Menschen keine Bildung haben oder einfach nicht hingehen. Wenn 60 Prozent gar nicht erscheinen, ist das schockierend. Viele Menschen haben ein kleineres Gehirn als ein Kanarienvogel und das liest du dann sehr deutlich auf den Social-Media-Plattformen." Anderson ist auch im Pensionsalter nicht stecken geblieben und verfolgt die Digitalisierung genau. "Der Hass im Internet steigt, auch ich habe ein paar Menschen erlebt, die mich bestimmt töten wollten. Die haben das in den bisherigen 50 Jahren meiner Karriere aber nie geschafft."
Die Vorsicht ist ein Mitgrund, dass der ohnehin so gerne grantelnde Brite in der Öffentlichkeit nicht immer jeden Autogrammwunsch erfüllt. "Wer weiß denn schon, was wer von dir will? Um wirklich sicher zu sein, müsste man sich Augen in den Hinterkopf implantieren lassen. Aber wenn du einmal unvorsichtig bist oder eine Situation als Person in der Öffentlichkeit falsch einschätzt, kriegst du keine zweite Chance mehr. Ich bin niemand, der oft lächelt oder Leute umarmt, aber natürlich bin ich innerhalb meiner Familie anders als im Geschäft auf Tour. Vielen Leuten geht es aber gar nicht um das Autogramm, sondern um die Nanosekunde, in der du mit ihnen Blickkontakt hast. Für dich als Künstler ist das egal, einem Fan kann dieser Moment aber das Leben verschönern."
Bedeutung der Moral
Anderson brennt schon seit langer Zeit für politische Themen, nimmt sich dabei auch in Interviews kein Blatt vor den Mund. Vor allem die fehlende Steuerzahlungsmoral in seiner englischen Heimat enerviert in maßlos. "Das ist ethisch falsch und zeigt, wie wenig Identität jemand hat. Der Staat zweigt sich etwa 50 Prozent meines Einkommens ab, was mehr ist als früher einmal. Aber ich zähle zu den besser Verdienenden und fühle eine moralische Verpflichtung. Dieses Land hat mir meine Karriere ermöglicht, also kann ich ihm auch etwas zurückgeben. Sieh dir Novak Djokovic an. Der kassiert als Profitennisspieler Millionen, lebt aber in Monte Carlo und zahlt nur einen Bruchteil der Steuern, die er in seiner Heimat Serbien zahlen müsste. Aber was ist das für eine Vorbildwirkung? So willst du Nationalheld sein?"
Vielleicht ist aber gerade diese Streitbarkeit, die Jethro Tull im Allgemeinen und Ian Anderson im Speziellen einen derart großen Welterfolg einbrachte. "In einer Band geht es auch nicht um Freundschaft, sondern eher um eine Art von Kumpelei. Ich würde das sogar mit den Einheiten in Vietnam vergleichen - man wird zusammengeworfen, freundet sich für die Sache an und geht irgendwann wieder auseinander. Freunde für's Leben findest du im Musikbusiness nicht, aber wenn die Kameradschaftlichkeit okay ist, kann man durchaus eine schöne Karriere haben." Ian Anderson wird uns sicher noch einige Jahre mit Musik beglücken - und auch als diskutabler Charakter. "Meine Sympathie schlägt für die Introvertierten. Ich werde niemals das brave Hündchen für die anderen sein."
Robert Fröwein, Kronen Zeitung/AG
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