Luft holen, ist mehr als nur ein Reflex. Wer richtig atmet, tut Körper und Geist etwas Gutes
Einatmen – ausatmen. Wir tun es ganz von alleine und machen uns darüber meistens keine Gedanken. Der Atem ist immer da. Simpel? Irrtum!
Wir haben verlernt, wie richtig Luftholen geht. Die Wissenschaft entdeckt wieder neu, was die traditionelle Heilkunde längst weiß: Die richtige Atemtechnik ist ein starkes Mittel, um gesund zu bleiben.
Im Tai-Chi oder Qigong, im Yoga und in der Atemtherapie ist seit Jahrhunderten bekannt: Der Atem hat eine heilende Wirkung auf Körper und Geist. Atmen ist die einzige körperliche Funktion, die sowohl unbewusst abläuft als auch willentlich geschehen kann. Wie stark bewusstes Atmen auf unsere Gesundheit wirkt, wird oft unterschätzt: Es mindert Stress, regt die Verdauung an und fördert den Schlaf. Eine langsamere und tiefe Atmung kann Menschen mit Migräne oder Lungenerkrankungen, Bluthochdruck und Panikattacken das Leben deutlich erleichtern. Sie schützt vor Herz-Kreislauferkrankungen und Entzündungen.
Keine Verschnaufpause im stressigen Alltag?
Falsches Luftholen hat sich in den oft stressigen Alltag eingeschlichen: Die meiste Zeit atmen wir zu flach in den Brustkorb. Hierbei sind vor allem die Zwischenrippen aktiv – die viel gesündere Bauchatmung, die unsere Organe massiert, den unteren Lungenbereich ausfüllt und das Zwerchfell aktiviert und flexibel hält, wird dabei vernachlässigt. Das Zwerchfell, der wichtigste Atemmuskel, dehnt sich beim Einatmen in den Bauchraum, der sich nach außen wölbt.
Hinzu kommt, dass wir bei der voluminösen Brustatmung zu viel Kohlendioxid aus der Lunge ausatmen, das dem Blut entzogen wird. Eine zu flache Atmung bedingt daher, dass zu wenig Sauerstoff aufgenommen wird. Die Folgen: Müdigkeit, Kraftlosigkeit und geringere Belastbarkeit.
Ein weit verbreitetes Problem ist die Mundatmung: Geschätzt jeder Zweite atmet fast ausschließlich durch den Mund. Richtig wäre jedoch: Durch die Nase ein, durch den Mund aus. Das hat seine Vorteile: Wir nehmen über die Nasenatmung 10 Prozent mehr Sauerstoff auf. Grund dafür ist Stickstoffmonoxid, welches in den Nasennebenhöhlen gebildet und automatisch in die Lungen transportiert wird. Die Nase reinigt, wärmt und befeuchtet die Atemluft, bevor sie in die Lunge kommt. Staub, Pollen und Krankheitserreger werden herausgefiltert. Selbst die Gehirnleistung verbessert sich: Denn bei der Nasenatmung werden Neuronen im Gehirn aktiviert, die für Erinnerung zuständig sind. Interessant ist die Erkenntnis, dass das Gehirn sich beim Einatmen leichter Dinge merken kann als beim Ausatmen – der Spruch „Wissen in sich aufsaugen“ ist nachvollziehbar. Sogar die korrekte Position der Zunge trägt zur gesunden Nasenatmung bei: Sie sollte hoch am Gaumen liegen und so die Mundhöhle abdichten.
Königsweg zur Genesung
Schon antike Hochkulturen richteten ihren Fokus auf die Atmung: Ägyptische Grabinschriften berichten von der „wundersamen Heilkunst mit dem Atem“ – dem „Königsweg“ zur Genesung. In den Jahrtausenden alten Schriften indischer Veden im Hinduismus wird richtiges Atmen als Quelle für Gesundheit und Wohlbefinden beschrieben.
Der Atem als Alleskönner
Kein Leben ohne Atmung: Die Gehirnzellen sterben nach zwei bis drei Minuten ohne Sauerstoff ab. Wie der Herzschlag und die Verdauung wird die Atmung über das vegetative Nervensystem geregelt. Atmung und Herz sind eng miteinander verbunden. Der Herzbeutel ist an der Sehnenplatte des Zwerchfells angewachsen. Schlägt das Herz schnell, beschleunigt sich die Atmung – atmen wir bewusst langsam, sinken auch Blutdruck und Puls.
Wenn wir den Atem gewollt steuern, wird dabei Einfluss auf das vegetative Nervensystem und die Emotionen genommen. Es lässt sich so leichter mit Stress und schmerzlichen Gefühlen umgehen. Durchschnittlich atmet ein Mensch 0,5 Liter Sauerstoff pro Atemzug ein. Wird seine Atmung tiefer, kann das Volumen über 2,5 Liter steigen.
Ein unverzichtbarer Lebensbegleiter
Der Atem ist so individuell wie der eigene Fingerabdruck. Jeder Mensch hat einen anderen Rhythmus. Denn so wie ein Mensch denkt, so atmet er auch. Es hängt von seiner persönlichen Lebensweise ab, wie tief er inhaliert und wie lange er ausatmet.
Therapeuten sehen den Atem als Verbindung zum Unterbewusstsein. Es mag also einen Grund haben, weshalb uns Stress den „Hals zuschnürt“ oder uns bei Angst der „Atem stockt“. Psyche und Atmung stehen im engen Zusammenhang. Bei körperlicher Anstrengung beschleunigt sich die Atmung – bei Schock kann sie aussetzen. In der Ruhe wird sie langsamer. Im entspannten Zustand atmet der Mensch etwa zwölf Mal pro Minute ein und wieder aus.
4-7-8-Technik
Richtiges Atmen will gelernt werden. Es bedeutet, die Luft ohne Anstrengung tief in den Bauch hineinströmen zu lassen. Die Grundvoraussetzung der Atemtherapie besteht darin, sich zuallererst des eigenen Atems bewusst zu werden. Ihn zu beobachten.
Es hilft zu Beginn, die Hände auf den Bauch zu legen und achtsam tief in sie hinein zu atmen. Die Bauchdecke hebt und senkt sich. Weich werden lassen – zurückschwingen – entspannen.
Auch das Halten bestimmter Fingerstellungen (Mudras) hat eine ausgleichende Wirkung auf den Körper.
Ein Beispiel: Aufrecht sitzen. Bei der linken Hand Daumen-, Mittelfinger- und Ringfingerkuppen aneinanderlegen. Bei der rechten Hand Daumen-, Zeige- und Mittelfingerkuppen zusammenlegen. Den Atem fließen lassen.
Damit die Gedanken nicht so leicht abschweifen, ist es sinnvoll, sich mit einer einfachen Zählmethode vertraut zu machen.
Bei Schlafproblemen kann die 4-7-8-Technik hilfreich sein: Vier Sekunden einatmen, dann sieben Sekunden die Luft anhalten und danach acht Sekunden ausatmen. Das langsame und verlängerte Ausatmen aktiviert das parasympathische Nervensystem und sorgt für Entspannung.
Traditionelle Yoga-Heilatmung
Im Yoga werden Atemübungen als Pranayama bezeichnet. Das Pranayama kennt verschiedene Atemübungen der Yoga-Heilatmung. Die yogischen Übungen sollen die Lebensenergie, die körpereigene Selbstheilung aktivieren und den Geist beruhigen. Sie bilden die Brücke vom Bewussten zum Unbewussten. Es zielt darauf ab, einen tiefen, gleichmäßigen Atemrhythmus zu finden. Prana bezeichnet die Lebensenergie, die alles und jeden durchfließt. Schlafmangel, Stress, falsche Ernährung und eine ungesunde Lebensweise blockieren das Prana. Dies schwächt die Organe und führt zu Krankheiten.
Der Fokus der Übungen liegt nicht nur beim Ein- und Ausatmen, es wird auch die Luft angehalten. Oder ein Ton erzeugt: Bei Bhramari wird beim Ausatmen mit geschlossenem Mund wie eine Biene gesummt. Schon einfache Techniken können helfen, den Atem zu lenken und innere Unruhe abzubauen: Sie wirken wie eine Massage, eine Sauerstoffdusche von innen.
Bei der Wechselatmung (z. B. Sonnenatmung) wird durch ein Nasenloch eingeatmet und durch das andere Nasenloch ausgeatmet – so werden die linke und die rechte Seite des Körpers und des Gehirns energetisch wieder in Harmonie gebracht und Erkältungen vorgebeugt (Anleitung siehe Kasten). Übrigens: Die Wirksamkeit von Pranayama ist inzwischen wissenschaftlich bestätigt.
Kleine Rituale mit großem Effekt
Dranbleiben lohnt sich: Schon wenige Minuten täglich zeigen Wirkung: Herzfrequenz und Blutdruck sinken, die Achtsamkeit verbessert sich und wir behalten einen klaren Kopf – auch in stressigen Zeiten. Ob zu Hause oder zwischendurch im Büro – gönnen Sie sich eine Atempause.
SONNENATMUNG:
Diese Wechselatmung macht wach und aufnahmefähig. Es wird durch ein Nasenloch eingeatmet und durch das andere Nasenloch ausgeatmet.
So geht’s: Aufrechte Sitzhaltung. Idealerweise im Schneidersitz oder auf einem Kissen. Das linke Nasenloch mit dem Ringfinger (oder Mittelfinger) der rechten Hand sanft verschließen und durch das rechte Nasenloch einatmen. Dann das rechte Nasenloch mit dem Daumen verschließen, das linke Nasenloch öffnen – und ausatmen. Nun das linke Nasenloch erneut zuhalten, das rechte öffnen und wieder einatmen. Immer links ausatmen und rechts einatmen. Zu Beginn nur zehn bis zwölf Wiederholungen.