Eigentlich wollte Julian die Wäsche aus dem Keller holen, doch er kommt im Vorraum am halb ausgepackten Koffer vorbei, aus dem er seine Kamera nimmt, und ins Wohnzimmer bringt. Dort fällt ihm auf, dass er die Pflanzen länger nicht gegossen hat, und geht in die Küche, nur um dort die vergessene Butter in den Kühlschrank zu legen. Zurück im Wohnzimmer setzt er sich an den Schreibtisch und arbeitet weiter - ohne Wäsche geholt oder Pflanzen gegossen zu haben. Klingt lustig? Zerstreut? „Typisch ich“? So wie Julian geht es vielen: Die Wäsche wird er morgen noch einmal waschen müssen, und die Pflanzen frühestens in einer Woche gießen. Denn Julian hat ADHS.
Dopaminmangel: Die ständige Suche nach Belohnung
Lange Zeit galt das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom als Diagnose für unruhige Buben. Das „Zappelphilipp-Syndrom“ wurde fast schon sprichwörtlich für Kinder, die nicht still sitzen können, impulsiv und unaufmerksam sind. Doch dieses Bild ist längst überholt. Heute wissen wir: ADHS hat weit mehr Facetten. Auch stille, unscheinbare Mädchen mit gutem Zeugnis sind betroffen - und Erwachsene.
ADHS ist keine psychische Erkrankung im klassischen Sinne, sondern eine Art neurologische Entwicklungsstörung. Der Kern des Problems liegt in der Regulation von Botenstoffen im Gehirn, insbesondere des Dopamins. Dopamin ist ein Neurotransmitter, der für Motivation, Belohnung und Konzentration eine zentrale Rolle spielt. Bei Menschen mit ADHS funktionieren Ausschüttung und Wiederaufnahme von Dopamin nicht so, wie bei neurotypischen Menschen - sprich: sie reagieren anders auf bestimmte Reize und Aufgaben. Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit zu steuern, Impulse zu kontrollieren und sich langfristig zu motivieren, sind die Folgen. Die Fehlregulation im Gehirn beeinflusst den Alltag erheblich. „Ich weiß, dass ich jetzt meine Küche zusammenräumen müsste, die Steuererklärung machen, die Katzen füttern - aber ich kann nicht von der Couch aufstehen. Manchmal vergehen Stunden, in denen ich ins Leere starre“, erzählt Susanne von der ADHS-typischen Paralyse - eine mentale Starre, die oft als Faulheit abgetan wird, aber nicht gesteuert werden kann. Die 42-jährige Grafikdesignerin wurde wie viele in ihrem Alter erst vor kurzem diagnostiziert. „Ich wurde jahrelang gegen Depressionen und Burnout behandelt. Die Medikamente haben mich noch nervöser gemacht, ich konnte nicht schlafen, hatte laufend Panikattacken. Doch die Ärzte haben mir nicht geglaubt.“
Zwischen Chaos und Kreativität
Susanne passt nicht ins Schema, ist sie doch in ihrem Beruf höchst erfolgreich. Das ist jedoch leicht erklärt: ADHS bedeutet nicht, dass man sich nicht konzentrieren kann. Man kann sich meist nur nicht auf die richtigen“ Dinge konzentrieren. Stoßen Menschen mit ADHS jedoch auf ein Thema, das ihr Interesse weckt, können sie in einen Hyperfokus verfallen, der sie extrem produktiv stundenlang an einer Aufgabe arbeiten lässt. Dies kann besonders vorteilhaft in Berufen sein, die Kreativität und Problemlösungsfähigkeiten erfordern. Der Hyperfokus hat jedoch auch seine Tücken. „Manchmal schaue ich um 17 Uhr das erste Mal auf die Uhr und merke, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe“, sagt Susanne. Das unregelmäßige Essen, ein weiteres typisches Merkmal für ADHS, führt oft zu abendlichen Fressattacken und belastet den ohnehin dauergestressten Körper zusätzlich. Ohnehin sind Verdauungsprobleme häufig. Denn um das fehlende Dopamin zu kompensieren, greifen viele ADHS-Betroffene - auch Kinder - unbewusst zu Zucker wie Süßigkeiten oder Energydrinks, die den Dopaminspiegel kurzfristig anheben. Sie können sich dann plötzlich dazu aufraffen, den Haushalt zu erledigen, und endlich Dinge bewerkstelligen, die andere im Vorbeigehen“ erledigen. Danach fällt der Dopaminspiegel aber wieder ab, oft tiefer als zuvor.
Gedankenspiralen: Hyperaktivität bei Erwachsenen vor allem im Inneren
Ein weiteres charakteristisches Merkmal von ADHS im Erwachsenenalter ist ein Teufelskreis aus sich wiederholenden Gedanken: ständiges Grübeln über vergangene Ereignisse, das Immer-Wieder-Durchdenken von ungelösten Problemen oder die Besessenheit mit bestimmten Details. Oder intrusive Gedanken: Ein Satz aus einem Lied, eine sich wiederholende Melodie. Diese Gedanken können Tage oder Wochen lang immer wieder aufkommen, selbst wenn der Betroffene versucht, sie zu verdrängen. Sie beeinträchtigen die Konzentration und verursachen emotionale Erschöpfung und Stress.
Auch in anderen Bereichen bringt ADHS Probleme. Menschen mit ADHS neigen oft zu impulsivem Shopping, da der Kaufrausch kurzfristig einen Dopaminschub auslöst. Zu zwischenmenschlichen Problemen, etwa in Beziehungen oder mit der Familie, kommt zudem der Druck von außen: Viele Menschen mit ADHS erleben zu Hause Chaos. Gesellschaftliche Erwartungen können dazu führen, dass sie sich isoliert fühlen und weniger soziale Kontakte pflegen, da sie sich schämen, Besuch einzuladen. Weitere Probleme sind das Einhalten von Terminen, Nägelbeißen oder Hautzupfen, „Zeitblindheit“ sowie der rasche Verlust des Interesses an gerade erst begonnenen neuen Hobbys, in die man sofort viel Geld investiert hat. Hinzu kommen mentale„Dünnhäutigkeit“ und Hochsensibilität, etwa auf Gerüche oder Geräusche.
Chronische innere Unruhe mit schwerwiegenden Folgen
Der ständige innere Stress von Menschen mit ADHS hat weitreichende Folgen für die Gesundheit. Die Unfähigkeit, sich zu entspannen, das permanente Gefühl der Überforderung und die Schwierigkeiten, Aufgaben zu Ende zu bringen, führen zu einem chronischen Stresszustand - ein Risikofaktor für Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Magen-Darm-Beschwerden. Auch wie Angstzustände und Depressionen können als Folge des ständigen Drucks auftreten.
Doch eine Diagnose - egal wie spät im Leben bringt Licht in viele Jahre der Selbstzweifel, der Schwierigkeiten, sich zu organisieren, der unerklärlichen Überforderung im Alltag. Neben Medikamenten gibt es zahlreiche Tools, die man anwenden kann, um das Chaos im Kopf - und im Leben zu ordnen, und endlich erfolgreich zu sein. Sei es im Beruf, in Beziehungen - oder darin, sich endlich selbst zu lieben.
von Melanie Leitner