Vor 80 Jahren zerstörte ein wütender Mob jüdische Gebäude in der Steiermark und misshandelte jüdische Mitbürger auf offener Straße. Zum Auftakt einer dreiteiligen Serie über den Novemberpogrom veröffentlichen wir die Erinnerung des Zeitzeugen Berthold Kaufmann an den Terror mitten in Graz. Ein erschütternder Text.
Der schrecklichste Tag meines Lebens. Zuerst hörten wir im Radio, dass der deutsche Gesandte Ernst von Rath gestorben war. Er soll durch einen Juden namens Herschel Grynszpan in Paris ermordet worden sein. Da meinte mein Vater: „Jetzt wird es gefährlich für uns, der Mob hat einen Grund, loszulaufen.“
Es begann mit einem Steinregen, der auf unser Dach prasselte. Die Straße vor unserem Haus war voll mit Menschen, die auf uns zielten. Bekannte Nachbarn waren das. Auch Willi Sammer war einer von ihnen. Vater wollte das nicht glauben. Die Enttäuschung war in sein Gesicht geschrieben. Die Fensterscheiben zerbrachen, das Dach wurde beschädigt. Mutter hat ununterbrochen versucht, mit dem Fernsprecher die Polizei zu erreichen, aber für uns Juden war niemand mehr zuständig. Ramerl hat furchtbar gebellt. Die Kaufmann-Oma ist im Lehnstuhl gesessen, und ich sah, wie ihr ganzer Körper zitterte.
Plötzlich stehen SA-Männer in der Tür
Später wurde es plötzlich still. In der Tür standen SA-Männer in ihren braunen Uniformen. Jetzt verlor Mutter die Nerven und versteckte sich im Bett unter der Decke. Sie hat ganz leise gewimmert. Hertha und ich blieben starr unter dem Tisch. Einer begann die Stube zu verwüsten, wurde dann aber vom anderen zurückgehalten: „Das werden wir alles noch brauchen können.“ Dann haben sie Vater gepackt und geschrien: „Jude, Sie kommen jetzt mit!“ Ich hab mich vor meinen Vater gestellt und gerufen: „Nein, er bleibt da!“ Da flog ich durch einen Schlag so leicht wie eine Feder quer durch den Raum und blieb mit Schmerzen liegen. Ich hörte noch, wie alle kreischten - und sah ganz verschwommen, wie sie Vater hinauszerrten. Sie behandelten ihn wie einen Schwerverbrecher. Meinen Vater, der nie etwas Böses getan hat, niemals!
Das Schrecklichste war diese Ohnmacht. Ich konnte Vater nicht helfen. Ich konnte die Frauen nicht trösten. Ich war innerlich wie gelähmt. Um zu sehen, wohin sie Vater verschleppt hatten, humpelte ich los. Ich ging einfach den gewohnten Weg den Murkai entlang und sah sehr viele Menschen auf der Höhe der Synagoge. Je näher ich kam, umso lauter wurde das Jubeln und Schreien der Menschen, und ich mischte mich unter sie, um zu sehen, was passierte.
Der Bürgermeister zündet die Synagoge an
Ich sah, wie unser Bürgermeister Julius Kaspar eine Fackel in den Tempel warf, beinahe feierlich. Schnell entstand ein Riesenfeuer, da war wohl schon alles mit Benzin getränkt worden. Ich sah, wie drei Nazis den Oberrabbiner vor sich hertrieben und ihn schlugen und anschrien, er solle doch schneller laufen. Der alte Mann fiel immer wieder hin. Sie wollten ihn in die Mur schmeißen, was sie dann doch nicht taten. Sie drehten sich um und änderten ihr Vorhaben: Sie wollten ihn ins Feuer werfen, was dann aber auch nicht geschah. Vielleicht konnten sie wegen der großen Hitze nicht nah genug ans Feuer heran. Einer zog am Bart des Oberrabbiners und riss ihm die eine Hälfte der Haare aus, sodass er stark blutete. Dann schlugen sie noch mehr auf ihn ein und trieben ihn Richtung Griesplatz.
Grazer trampeln auf einem alten Mann herum
Die Menschen um mich klatschten vor Freude und voll Hass. Sie feierten den Tod. „Das ist alles zu wenig, was ihr mit den Saujuden macht“, rief einer. Die Kuppel des Tempels brach ein. Da sah ich Juden in Nachthemden, die misshandelt und beschimpft wurden. Ein alter Mann wurde niedergeschlagen und auf ihm herumgetrampelt. Die Stiefel trafen immer wieder seinen Körper und seinen Kopf. Die Männer und Frauen um mich herum freuten sich. Dann sah ich, wie ein Mann eine halbnackte, schwangere Frau, deren Kleider heruntergerissen waren, in die Flammen werfen wollte. Mir wurde schwindlig. Diese Bilder kommen vor meinem inneren Auge immer wieder, ich kann sie nicht mehr löschen. Sie verfolgen mich bis in den letzten Winkel meiner Seele.
Ein Grazer erinnert sich
So wie es der Text oben schildert, erlebte der 13-jährige Berthold „Bertl“ Kaufmann vor exakt 80 Jahren den Tag, an dem die Grazer Synagoge brannte. Es war der Auftakt zum Mord an den steirischen Juden, dem auch die Familie von Bertls Mutter zum Opfer fiel. Berthold selbst konnte mit seinen Eltern und seiner Schwester fliehen. Nach einer Odyssee über Zypern, Israel und Afrika kehrte die Familie 1949 nach Graz zurück.
Berthold Kaufmann schwieg lange, um das Trauma nicht an seine Kinder weiterzugeben. Erst Jahrzehnte später gelang es ihm, seiner Tochter Ruth vom erlebten Grauen zu erzählen. Sie sammelte die Erinnerungen ihres Vaters in dem Buch „Die lange Nacht der Gelben Sterne“ (187 Seiten, erhältlich unter anderem bei Amazon).
In der morgigen Ausgabe der „Steirerkrone“ lesen Sie ein Interview mit Ruth Kaufmann über das Schicksal der jüdischen Steirer - auch jener wenigen, die nach dem Krieg zurückkehrten. Am Sonntag berichtet der Grazer Historiker Gerald Lamprecht vom Wachsen des Antisemitismus vor 1938, vom grausamen Vorgehen der steirischen Nazis gegen ihre jüdischen Mitbürger, von den gierigen „Arisierungen“ - und von der mehr als halbherzigen „Entnazifizierung“ unserer Gesellschaft in den schwierigen Jahren nach dem Weltkrieg.
Kommentar:
Massenmord verjährt nicht
„Das ist alles so lange her“, sagen die einen. „Was haben wir damit zu tun?“, fragen die anderen. „Irgendwann muss Schluss sein“, behaupten manche.
Falsch.
Es ist unser Erbe. Wir leben genau auf den Plätzen und Straßen, in den selben Häusern, wo 1938 der Wahnsinn gewütet hat. Etwa 3000 Steirer wurden wegen ihrer jüdischen Herkunft vertrieben oder ermordet. Wir sind die Nachfahren der Opfer und Täter, der Mitläufer, der schweigenden Zuschauer. Das ist unsere Geschichte, unsere Identität.
Viel zu viele Steirer, die zwischen 1938 und 1945 direkt oder indirekt am Terror gegen die Juden beteiligt waren, durften nach dem Krieg unbehelligt weiterleben. Und auch heute noch leben Neonazis unter uns, die mehr oder weniger ungeniert den Massenmördern von damals huldigen.
Dort, wo der Rechtsstaat funktioniert, sperrt er diese kranken Menschenhasser weg. Uns anderen Steirern, die wir mit Anstand und Intelligenz gesegnet sind, bleibt die Aufgabe, uns ab und zu mit dem Unvorstellbaren zu konfrontieren. Damit wir nicht vergessen, wohin der Hass die Menschen führen kann. Gerade jetzt, wo die Zeitzeugen immer schneller wegsterben, müssen wir uns erinnern.
Die Novemberpogrome vor genau 80 Jahren, bei denen in ganz Hitlerdeutschland Juden misshandelt, beraubt, gedemütigt und getötet wurden, waren das erste grausame Vorspiel zum industrialisierten Massenmord an sechs Millionen europäischen Juden ab 1941.
Der Holocaust bleibt ein unbegreifliches, unvergleichliches Verbrechen, begangen auch von Steirern an Steirern. Der Holocaust verjährt nicht.
Matthias Wagner
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