Der Novemberpogrom der steirischen Nationalsozialisten vor 80 Jahren war eine der dunkelsten Stunden in der Geschichte des Landes. Im dritten und letzten Teil unserer Serie (hier Teil 1 und Teil 2) erzählt der Grazer Geschichtsprofessor Gerald Lamprecht vom Raubzug gegen die jüdische Bevölkerung - und von der halbherzigen Entnazifizierung nach dem Krieg, die bis heute nachwirkt.
Steirerkrone: Herr Professor, als Grund für den Erfolg der Nazis wird oft die Not der Zwischenkriegszeit genannt. Ist das eine Ausrede?
Gerald Lamprecht: Diese Zeit war von Wirtschaftskrisen und Armut geprägt. Das war ein Einfallstor für radikale Ideen. Auf der anderen Seite muss man sagen: Es gab ja auch Länder, in denen ebenfalls Armut herrschte - und die nicht in den Faschismus gingen, etwa die Tschechoslowakei. Die Floskel, dass es nichts zu essen gab, reicht nicht als Erklärung.
Welchen Anteil hatte der 1934 gegründete autoritäre Ständestaat an der Verrohung der Gesellschaft?
Der Austrofaschismus zeigt, dass die Demokratie damals für viele gar nicht als schützenswert galt. Er trägt die Hauptverantwortung an der Vernichtung der Demokratie. Für den „Anschluss“ 1938 konnte er aber nichts.
Wie viele Steirer waren vor 80 Jahren wirklich aktiv an den Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung beteiligt?
Da gibt es keine exakten Zahlen dazu. Es waren Mitglieder der NSDAP, SA, SS, SD. Daneben gab es viele Trittbrettfahrer, die die „Gunst der Stunde“ nutzten, sich am jüdischen Eigentum zu bereichern. Das waren Geschäftsleute, Hausbesitzer und viele andere.
Wer ordnete diese „Arisierungen“ an?
Zuerst war das über weite Strecken eine Selbstermächtigung. Die Leute erklärten sich oft selbst zu so genannten Kommissaren, die jüdische Geschäfte übernahmen. Das war schon in den ersten Wochen nach dem „Anschluss“ im März 1938.
Wie wurde das später organisiert?
Im August wurde die so genannte Vermögensverkehrsstelle eingerichtet. Dort lagen Formulare zum Ausfüllen auf: Ich hätte gerne das und das. Dann gab es klare Abläufe zur Übertragung des Vermögens von den jüdischen Eigentümern auf die Ariseure.
Wurde das „arisierte“ Eigentum nach dem Krieg vollständig zurückgegeben?
Grundsätzlich muss man festhalten, dass eine Restitution nie das erlittene Leid „wiedergutmachen“ konnte. Doch es gab, soweit mir bekannt, in allen Fällen Rückstellungsverfahren. Die endeten nicht immer mit Rückgaben, sondern oft mit Vergleichen. Und die Ariseure versuchten, den Wert der Liegenschaften oder Geschäfte möglichst zu drücken.
Wer war die treibende Kraft hinter der Rückstellung?
Die österreichische Regierung hat das damals nicht aus innerem Antrieb gemacht, sondern nur unter starkem Druck der Besatzungsmächte.
Was geschah mit dem Hab und Gut derjenigen, die von den Nationalsozialisten ermordet worden waren?
Das „erblose Vermögen“ kam in Sammelstellen. Daraus gab es Entschädigungen an Personen und gemeinnützige Organisationen.
Gab es nach dem Krieg Strafen für die Ariseure?
Es gab ab und zu Verfahren, aber nur wenige Verurteilungen wegen Bereicherung. Nicht wenige der Ariseure wurden allerdings von den Volksgerichten nach 1945 verurteilt, weil sie zu den sogenannten „Illegalen“ gehört hatten, die schon vor dem „Anschluss“ bei der NSDAP waren.
Viele kamen ohne Konsequenzen davon. Der Nazi und Massenmörder Franz Murer zum Beispiel wurde 1963 in einem Grazer Skandalprozess freigesprochen. Jüdische Zeugen wurden verhöhnt. Hat die Entnazifizierung bei uns jemals stattgefunden?
Die Steiermark war bis Anfang der 1980er-Jahre stark vom Antisemitismus geprägt. Es gab auch eine sehr aktive Neonazi-Szene. In Graz hat sich das erst mit der Amtszeit von Bürgermeister Alfred Stingl gewandelt. Er war auch der erste Grazer Bürgermeister nach 1945, der die jüdische Gemeinde besucht hat.
Wie konsequent verlief die Entnazifizierung im akademischen Bereich?
Sehr halbherzig. Viele nationalsozialistische Professoren kehrten rasch zurück an ihre Posten. Oder aber sie bekamen eine Professur in der nächsten Stadt. Die typische Schutzbehauptung war: „Ich habe nur meine Wissenschaft betrieben, ich hatte mit der Politik nichts zu tun.“
Wie ist es eigentlich heute: Geht unser Rechtsstaat streng genug gegen die Neonazis vor?
Jein. Die gesetzliche Lage ist eindeutig, aber die Frage ist, wie konsequent bestimmte Delikte, etwa Wiederbetätigung, auch verurteilt werden. Im Moment haben wir eine politische Kultur, in der die Schranke dessen, was man ungestraft öffentlich sagen kann, wieder stark nach unten geschoben wird. Es gibt eine Verrohung und Radikalisierung im politischen Sprechen, etwa auf den Facebook-Seiten diverser Politiker, die beängstigend ist. Und wir erleben eine ganze Reihe von „Einzelfällen“, in denen Vertreter politischer Parteien Kommentare abgeben, die vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wären - oder zumindest zum sofortigen Rücktritt geführt hätten.
Müssen wir Angst haben, dass der verbalen Gewalt auch physische Gewalt folgt?
Sprache erzeugt Wirklichkeit. Radikale Sprache kann einen Raum schaffen, in dem Gewalt legitim scheint.
Vor 80 Jahren eskalierte die Gewalt gegen jüdische Steirer
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland im März 1938 begannen die Nationalsozialisten sofort mit der Diskriminierung, Enteignung und Vertreibung der jüdischen Steirer. Für sie galten ab sofort Berufsverbote.
Jüdische Geschäfte, Häuser und Wohnungen wurden „arisiert“: In Handel und Gewerbe gab es 513 Fälle, in der Industrie 52, dazu 536 Liegenschaften. Prominente Beispiele: Tuchhaus Rendi, Schuhgeschäft Spitz, Kaufhaus Kastner&Öhler.
Mit gezielten Festnahmen wichtiger jüdische Persönlichkeiten wurde jeder Widerstand im Keim erstickt. Im Sommer wurde Juden der Besuch öffentlicher Bäder verboten.
Mit dem Pogrom am 9. und 10. November 1938 eskalierte die Gewalt gegen die jüdischen Steirer. Die Bethäuser in Graz, Judenburg und Leoben wurden zerstört; jüdische Bürger auf offener Straße misshandelt. Ab dem 10. November wurden rund 300 jüdische Männer aus Graz und 50 aus der übrigen Steiermark nach Dachau deportiert. Im Herbst 1939 lebte kein einziger Jude mehr im Land.
Insgesamt wurden etwa 3000 Steirer als Juden verfolgt. Ein Drittel von ihnen wurde ermordet. Von denen, die überlebten, kehrte fast niemand zurück. Die Kultusgemeinde in Graz, die vor 1938 rund 2000 Mitglieder hatte, zählte seit dem Krieg nie wieder mehr als 200 Mitglieder.
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