27. Juni 2019: Eine 16-jährige Steirerin liegt tot in der Wohnung ihres Nachbarn. Der Mann behauptet, er habe der Schülerin „bloß beim Suizid geholfen“. Aber die Kripo glaubt an Mord. Nun werden langsam die Hintergründe des „Dramas von Deutschlandsberg“ offenkundig.
Die Sonne schien, es war glühend heiß, als Elena am 27. Juni um 14 Uhr die HAK Deutschlandsberg verließ. Vielleicht wollte die Schülerin bloß heim, in die 90-Quadratmeter-Wohnung im ersten Stock eines Mehrparteienhauses, wo sie seit ein paar Monaten mit ihrem Vater lebte; vielleicht überlegte sie, ein Freibad zu besuchen oder irgendwo ein Eis zu essen. Vielleicht, vielleicht ...
Niemand weiß, welche Pläne die 16-Jährige für den Nachmittag hatte. Und ungeklärt ist auch noch, wann und wo sie mit ihrem Nachbarn aus dem Erdgeschoß zusammengetroffen ist. Vielleicht auf der Straße, vielleicht auf der Stiege. Vielleicht hat Manfred H. sie, wie schon so oft davor, dazu überredet, mit ihm in ein Cafe zu gehen; vielleicht hat er sie gleich, unter einem Vorwand, zu sich gelockt.
„Ein Mädchen liegt tot in meinem Bett“
Fest steht lediglich: Am frühen Abend trank die Schülerin bei ihm zuhause eine mit Betäubungsmitteln versetzte Limonade, kurz darauf wurde sie von dem 42-Jährigen erwürgt. Um 20.06 Uhr war der Mann in eine Polizeistation gekommen. „Ein Mädchen liegt tot in meinem Bett“, sagte er. Elena habe sich nichts mehr gewünscht, als sterben zu dürfen, erklärte er weiters, und: „Ich habe ihr bei ihrem Selbstmord geholfen. Weil sie mich so sehr darum gebeten hatte.“
Bis jetzt bleibt der Manfred H. bei diesen Angaben. „Ihr habt zwei Abschiedsbriefe bei der Kleinen gefunden. Sie beweisen, dass ich kein Mörder bin“, beteuert er in Vernehmungen. Doch unter welchen Umständen hat die Schülerin die beiden Schreiben – eines war an ihren Vater, das andere an einen Freund gerichtet – verfasst? Kann diese Frage, wie die Staatsanwaltschaft hofft, von Graphologen und Psychiatern beantwortet werden? Was war die Vorgeschichte des Dramas?
Die Psyche des Mordverdächtigen
Wer ist Manfred H.? Der Mann: ein Arbeiter, von Jugend an in Technik- und Installateurbetrieben tätig, in seiner Heimat, der Steiermark; in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland. 2014 nahm er eine Stelle bei einem Metallbauunternehmen in Deutschlandsberg an. Und bezog dort die Parterre-Wohnung im Industriegebiet. Seine Nachbarn zeichnen unterschiedliche Bilder von ihm. „Freundlich, ruhig, fleißig“, so wird er von einigen beschrieben. „Er war ein Spinner, ein Eigenbrötler, fast unheimlich“, urteilen andere über ihn. Und doch meinen selbst sie: Manfred H. führte ein nach außen hin eher biederes Dasein.
Er ging jeden Tag zu Fuß zur Arbeit, mit einem um den Bauch geschnallten Rucksack, in den er davor Jausenbrote eingepackt hatte. Er besaß keinen Führerschein, machte selten Urlaube, hatte nie eine Partnerin. Er war nach Dienstschluss meistens daheim, wo er an einem seiner Modellautos herumbastelte, die er manchmal nachts, auf dem Parkplatz eines Supermarkts, startete. Seine Augen hätten einen „kindlichen Glanz gehabt“, wenn er die Miniaturwagen durch die Gegend schießen ließ. Was wiederholt Anzeigen wegen Ruhestörung zur Folge hatte.
„Manchmal fürchteten wir uns vor ihm“
Anrainer, die er verdächtigte, ihn bei der Polizei gemeldet zu haben, verfolgte er mit Hass: „Seine Blicke waren extrem böse, wir fürchteten uns vor ihm.“ „Ich hielt Manfred für einen besonders gutmütigen Menschen“, erzählt hingegen der Hausherr des 42-Jährigen: „Oft lud ich ihn, genauso wie meine anderen Mieter, zum Grillen ein“, im Garten hinter dem kleinen Wohnblock, „wir alle waren eigentlich wie eine Familie.“
Seit Ende 2018 gehörten auch Elena und ihr Vater dazu. Der Mann und seine Frau hatten sich bereits vor einigen Jahren getrennt, die beiden gemeinsamen Kinder, das Mädchen und ihr Zwillingsbruder, waren zunächst bei der Mutter geblieben. Zuletzt wollte die Tochter bei ihrem Papa leben, darum seine Übersiedlung in die geräumige Wohnung in der Frauentaler Straße.
16-Jährige wollte berühmte Pianistin werden
Was ist sonst über das Opfer bekannt? Früher, in der NMS Schwanberg, galt die Steirerin als Vorzeigeschülerin. „Sie war eben ein extrem liebes und braves Mädchen“, erinnern sich ehemalige Klassenkameraden. Lustig, ehrgeizig, folgsam. Schon im Kindesalter hatte Elena begonnen, Klavier zu spielen. Rasch beherrschte sie selbst komplizierte Stücke, von ihrem zwölften Lebensjahr an trat sie regelmäßig bei Veranstaltungen in der Gemeinde auf, erst kürzlich begleitete sie die Lesung einer bekannten Krimiautorin musikalisch, „ihr großer Traum war, eine berühmte Pianistin zu werden.“
Dieser Traum, er blieb in ihr, auch nach ihrem Wechsel in die HAK Deutschlandsberg. Doch langsam begann sie sich zu verändern. Sie schrieb zwar weiterhin gute Noten, aber plötzlich war sie eher still, in sich gekehrt, es fiel ihr schwer, Anschluss zu finden. Ihre Eltern: Zeugen Jehovas. „Elena wurde deswegen von manchen Mitschülern zur Sektiererin abgestempelt.“ Gleichzeitig hätten sie einige Mitschülerinnen mit „fürchterlicher Eifersucht“ verfolgt: „Weil sie sie hübsch war - und deshalb viele Verehrer hatte.“ Absurde Storys seien über sie verbreitet worden; mal, dass sie dauernd bete - und dann wieder, dass sie unzählige Liebschaften habe.
„Elena fühlte sich unverstanden“
„Aber in Wahrheit ist sie ein ganz normaler Teenager gewesen.“ Ein Mädchen, das sich über Komplimente freute; das manchmal in einem Fast-Food-Restaurant aushalf, um sein Taschengeld ein wenig aufzubessern. Ein Mädchen, dass sich gerne schick kleidete und für Pop-Stars - besonders für One-Direction-Sänger Harry Styles - schwärmte. „Elena“, erzählen Freundinnen, „fühlte sich zunehmends unverstanden.“ Nicht nur von ihren Klassenkollegen, sondern auch von ihren Eltern, „speziell von ihrer Mama“, mit ihren strengen Gottes-Regeln: nicht ausgehen, keine Geburtstage feiern, keine Verbindungen zu Burschen pflegen zu dürfen.
Vielleicht waren all diese Schwierigkeiten und Vorgaben der Grund dafür, warum das Mädchen laufend mehr mit dem „netten“, vorgeblich so verständnisvollen Mieter, der unter ihr und ihrem Vater wohnte, in Kontakt kam. Manfred H.: Er hörte ihr zu, wenn sie über ihre Probleme mit Erwachsenen und Gleichaltrigen sprach. Oft. Immer öfter. Bei Treffen zu zweit. Die niemand seltsam fand. Die Nachbarn, die zur „Familie“ gehörten, dachten, Elena wäre für den 42-Jährigen eine Art „Ersatztochter“, und der Vater der 16-Jährigen - „er ahnte nichts Schlimmes, denn er war doch selbst mit Manfred gut befreundet.“
„Auch ich glaubte“, so die Besitzerin eines Cafes, in dem der Arbeiter und das Mädchen seit Frühjahr beinahe täglich gemeinsam zu Besuch gewesen sind, „dass die Kleine eine Nichte von ihm war.“ Mitunter stundenlang seien die beiden zusammengesessen, „Elena plauderte viel“, während sie, auf Einladung ihres Nachbarn, Schinken-Käse-Toasts oder Eis aß und Cola trank. Und Manfred H.? „Er konsumierte stets bloß Kaffee, und verhielt sich eher ruhig. Er schien sich sehr wohl zu fühlen in der Gesellschaft des Mädchens. Überhaupt, er war in den vergangenen Monaten nur noch mit ihr bei uns im Lokal. Anders als früher: Da hatte er hier häufig mit einer älteren Dame Uno gespielt.“
„Du sollst nicht flirten, sondern lernen!“
Die Schülerin und der Mann, sie hätten „stets harmonisch gewirkt“, bis zu einem Nachmittag, etwa eine Woche vor der Tragödie: „Ein Bursch kam zu den beiden an den Tisch, er gab Elena ein Bussi und nahm neben ihr Platz.“ Manfred H. habe sich in der Folge „eigenartig verhalten, er bezahlte schnell die Rechnung verließ fluchtartig das Cafe.“ Davor habe er das Mädchen angeschrien: „Verschwind nachhause, du sollst nicht flirten, sondern lernen!“ Elena und ihr Freund wären danach bald gegangen: „Es war das letzte Mal, dass ich die Kleine gesehen habe.“
Dem Zwischenfall in dem Lokal folgten - das belegen Handyauswertungen - Beschimpfungen des Mannes, an Elena. Per SMS und per Sprachnachrichten. Der 42-Jährige sei, so die Wirtin, „dann noch ein paar Mal alleine bei mir zu Gast gewesen. Er erzählte, dass die Firma, für die er arbeitete, in Konkurs gegangen wäre, er einen neuen Job in Graz in Aussicht hätte und daher von Deutschlandsberg wegziehen werde.“ Ähnliches berichtete er einer Nachbarin: „Er sagte, er müsse sich in naher Zukunft beruflich - damit auch örtlich verändern.“ Fakt ist allerdings: Der Metallbetrieb, für den er tätig war, floriert. „Und Manfred“, erzählt ein Kollege von ihm, „war gerade erst befördert worden.“
Wollte sich Manfred H. absetzen?
Warum diese Lügen? Wollte sich der Mann nach der Tat absetzen? Oder war alles ganz anders? Träumte er davon, die 16-Jährige nur für sich zu haben; plante er mit ihr eine Flucht? Hatte er sie, vielleicht schon Wochen vor dem Drama, davon überzeugt, es wäre erholsam für sie, mit ihm für einige Zeit ihrem Alltag zu entfliehen? Brachte er sie so dazu, Abschiedsbriefe zu schreiben - um ihr Umfeld glauben zu lassen, sie hätte sich irgendwo umgebracht, weswegen es keine Fahndung nach ihnen beiden geben würde?
Was ist am 27. Juni wirklich in Manfred H.s Wohnung geschehen? „Um etwa 19 Uhr“, erinnert sich eine Frau aus einem Nebenhaus, „ging er lange vor seinem Wohnblock nervös auf und ab, er wirkte, als würde er angestrengt nachdenken.“ Elena war da bereits tot.
Martina Prewein, Kronen Zeitung
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