Großes Doppelinterview

Lockdown-Streit: „Beisl einfach öffnen geht nicht“

Wirtschaft
29.01.2021 23:50

Was wiegt mehr? Die gleichbleibend hohen Zahlen der Covid-Erkrankungen oder die wirtschaftlichen Folgeschäden? Die „Krone“ bat Umweltmediziner Hans-Peter Hutter und WKO-Chef Harald Mahrer an einen Tisch.

„Krone“: Das Ziel für Öffnungsschritte ist die Inzidenz von 50. Rückt das Öffnen in weite Ferne?
Hans-Peter Hutter:
 Nein. Ich kann mir vorstellen, dass es auch jetzt, wo wir um ein Inzidenz von rund 100 pendeln, definitiv möglich ist, gewisse Öffnungsschritte unter flankierenden, sehr strengen Maßnahmen zu setzen.

Streitgespräch zwischen WKO-Chef Harald Mahrer und Mediziner Hans-Peter Hutter (Bild: Groh)
Streitgespräch zwischen WKO-Chef Harald Mahrer und Mediziner Hans-Peter Hutter

Welche Öffnungsschritte wären das und wann?
Harald Mahrer: Die Präventionskonzepte und die zusätzlichen Werkzeuge wie FFP2-Masken und Antigentests ermöglichen auf alle Fälle erste Öffnungsschritte im Handel und bei den persönlichen Dienstleistern ab dem angekündigten 8. Februar. Wir reden nicht von weiteren Wirtschaftsbereichen, sondern von ersten sanften Schritten, die wirtschaftlich und psychologisch notwendig sind. Da gehört die Schule dazu.
Hutter: Alles, was mit Bildung und Betreuungseinrichtungen zu tun hat. Dazu kommen die Sektoren Handel und Dienstleister. Es versteht sich von selbst, dass alle, die öffnen dürfen, die entsprechenden Präventionsmaßnahmen ganz klar auch umsetzen müssen. Das ist epidemiologisch kein Spaß: Wenn es hier und da Unverständnis gibt, landen wir ganz schnell wieder dort, wo wir im November waren. Da wollen wir nie wieder hin. Ich hoffe, dass aus dieser Zeit etwas gelernt worden ist und nicht die Sorglosigkeit aus dem Sommer zurückkehrt.
Mahrer: Die Zahlen aus dem Gesundheitssystem geben uns recht. Wir haben heuer keine Grippewelle. Die Leute halten sich an die Abstände, die Hygiene und das Maskentragen.
Hutter: Es ist wichtig, endlich ein positives Signal zu setzen. Es gibt den Begriff der pandemischen Müdigkeit - das haben wir schon im Herbst gesehen. Gerade gab es auch einen Aufschrei aus der Kinderpsychiatrie, weil sich dort die Fälle mehren. Das ist ein Warnsignal, dass es unter der Oberfläche gravierende Probleme gibt, auf die wir reagieren müssen. Man darf nicht vergessen, dass alles daran hängt, dass die Bevölkerung Maßnahmen mitträgt. Wenn die WHO sagt, 2021 wird noch schlimmer als 2020, drängt das die Menschen verstärkt dazu, sich zu fürchten oder auf der anderen Seite zu seltsamen Kundgebungen zu gehen.

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Wenn es hier und da Unverständnis gibt, landen wir schnell wieder dort, wo wir im November waren. Da wollen wir nie wieder hin.

Umweltmediziner Hans-Peter Hutter

Ihr Medizinerkollege Oswald Wagner von der MedUni Wien hat für einen kurzen, aber noch schärferen Lockdown plädiert ...
Hutter: Wenn Sie mich als Infektiologen fragen, ist es natürlich am besten, die Werte möglichst weit hinunter zu bringen. Aber das öffentliche Gesundheitswesen kann nicht so tun, als ob es Probleme wie psychische Überlastung und coronabedingte Übersterblichkeit nicht gäbe. Es ist an der Zeit, über den Tellerrand der Virus-Epidemie auf die psychosoziale Epidemie zu schauen, die sich gerade hochschaukelt.
Mahrer: Wir haben den am besten ausgestatteten Werkzeugkoffer seit Beginn der Pandemie. Der muss auch eingesetzt werden.

Mediziner Hans-Peter Hutter (Bild: Klemens Groh)
Mediziner Hans-Peter Hutter

Die Gastronomie ist eines der emotionalsten Themen. Unter welchen Voraussetzungen wird sie öffnen dürfen?
Hutter: Es ist wichtig, dass man die Öffnungsschritte sehr vorsichtig setzt. relevante Auswirkungen auf die Infektionszahlen gegeben hat, ob also allespasst. Dann kann man den nächsten Schritt machen. Über allen Öffnungen stehen klare Präventionskonzepte. Sie müssen bis ins Detail ausgearbeitet sein. In der Gastronomie wird jemand mit einer professionellen Lüftungsanlage anders bewertet werden müssen als ein stickiges Beisl. Da wird man dann vielleicht die Verabreichungsplätze mehr einschränken müssen. Es findet sich ein Weg, wenn man sich fundiert damit auseinandersetzt. Dass man das Beisl einfach so wieder aufsperrt, wird aber nicht gehen.
Mahrer: Genau diese Vorgehensweise hatten wir im Frühjahr 2020. Es haben sich alle Branchen mit Präventionskonzepten eingebracht und sie bis heute auch weiterentwickelt. Zum Teil wurden die österreichischen Regeln von anderen Ländern kopiert. Wenn es genug Angebote im öffentlichen Raum gibt, spricht nichts gegen Eintrittstestungen etwa im Kunst- und Kulturbereich.

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In Südkorea hat die Gastronomie seit Beginn der Pandemie noch nie geschlossen – weil es die Kontaktverfolgung gibt.

WKO-Chef Harald Mahrer

Die Gastronomie hat sich zuletzt gegen strengere Auflagen - Stichwort Eintrittstests - ausgesprochen ...
Mahrer: Da muss man eine emotionslose Debatte führen: Was erwartet man? Müssen kleine Lokale eine Testmöglichkeit anbieten? Das können sie nicht. Aber vielleicht stellt die öffentliche Hand eine digitale Möglichkeit zur Kontaktnachverfolgung zur Verfügung. In Südkorea hat die Gastronomie seit Beginn der Pandemie noch nie geschlossen - weil es die Möglichkeit zur digitalen Kontaktverfolgung gibt.
Hutter: Wie werden wir mit der Pandemie fertig, ohne dass wir das Gesundheitssystem überlasten, aber mit möglichst großen persönlichen Freiheiten? Das geht nur über funktionierendes Contact Tracing. Und wir haben zusätzlich das Testen. Vom Nasen-Rachen-Abstrich sind wir jetzt beim Nasenbohrtest, der Kindern sogar Spaß macht, weil sie endlich legal in der Nase bohren dürfen. Manchen Erwachsenen vielleicht auch.

WKO-Chef Harald Mahrer (Bild: Groh)
WKO-Chef Harald Mahrer

Das Contact Tracing funktioniert der Öffentlichkeit nach aber nur bei einer 50er Inzidenz ...
Hutter: Die Zahl der Neuinfektionen allein ist aber für eine vernünftige Entscheidung zu Maßnahmen nicht ausreichend. Diese Zahl muss mit der Kapazität für ein wirksames Contact-Tracing und der Aufnahmefähigkeit der Krankenhäuser für schwere und schwerste Fälle in Beziehung gesetzt. Ich weiß, Contact Tracing ist nicht einfach, auch für die Personen die das machen. Die muss man unterstützen. Das braucht Ressourcen - einfacher und günstiger wäre ein digitales System.
Mahrer: Unser Vorstoß, in Betrieben zu testen, ist ein Kompensat für das leider nicht funktionierende Contact Tracing. So versuchen wir, Spreader herauszufischen, bevor sie andere anstecken.
Hutter: Man kann natürlich alles nur an Zahlen festmachen. Man kann auch sagen: Ich will eine Inzidenz von 25. Oder 10. Und erst dann sperren wir auf.
Mahrer: Aber die Frage ist dann: Stimmt die Verhältnismäßigkeit.
Hutter: Das ist euer Wording, aber es stimmt.

Aber wird das Risiko durch die neuen Mutationen nicht unmöglich einschätzbar?
Hutter: Dass die britische die bisher bekannte Mutation ersetzen wird, ist sicher. Auf diese Situation müssen wir uns einstellen - das haben wir mit den verschärften Maßnahmen in Sachen Masken und Abstand gemacht. Wir wissen von weitaus infektiöseren Erregern wie Masern, dass diese Maßnahmen sehr gut funktionieren.

Europäische Wissenschaftlicher haben unter dem Begriff „ZeroCovid“ den Plan für einen europaweiten Lockdown entworfen. Was halten Sie davon?
Mahrer: Da sind einige gute, aber auch einige weltfremde Ansätze drinnen. Man kann nicht ganz Europa unter eine Käseglocke stellen. Einige Ideen - Stichwort Zutrittstest - sind bei uns aber schon in der Umsetzung.
Hutter: Ein gesamteuropäischer Gedanke ist wichtig, aber er muss in einer breiteren Art umsetzbar sein. Das Papier ist ein Anfang.
Mahrer: Als Papier für eine zukünftige Pandemie macht es Sinn, da gibt es viele Lerneffekte. Wir sind aber jetzt mitten im Fußballspiel. Da kann man nicht die Spielregeln ändern.
Hutter: Korrekt. Wenn man das tut, kommen Fragen auf, die wir alle kennen: „Warum dürfen die Schifahren und wir nicht im Freien Vereinssport betreiben?“ Es kommt zu Ungereimtheiten und Unstimmigkeiten. Das verringert die Bereitschaft Maßnahmen mitzutragen.

Unter welchen Voraussetzungen müsste man den Lockdown doch verschärfen?
Hutter: Wenn wir wieder in die Situation wie im November kommen. Das lässt sich im Fall des Falles, frühzeitig erkennen und dann ist noch immer Zeit gegenzusteuern.

Daten und Fakten
Vertreter einer sanften Öffnung verweisen darauf, dass durch regelmäßige Tests, FFP2-Masken und Abstand das Infektionsrisiko minimiert werden kann. Virologen fürchten, dass durch die unberechenbare Ausbreitung der neuen Virusmutationen in Kombination mit Öffnungsschritten der Anstieg der Zahlen das Gesundheitssystem schnell wieder an die Belastungsgrenzen bringen könnte. In vielen Ländern, die den Lockdown früh beendeten, wurde so ein rasanter Anstieg kurz nach der Öffnung beobachtet und der Lockdown schnell wieder eingeführt.

Interview: Teresa Spari, Kronen Zeitung

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