Pflege daheim

Die Wiener Angst vor dem burgenländischen Modell

Wien
06.08.2021 06:01

Mit der Ankündigung, dass man auch das sogenannte Anstellungsmodell für pflegende Angehörige einführen möchte, hat die Wiener Stadtregierung für Aufsehen gesorgt. Das im Burgenland bereits seit 2019 praktizierte Modell sieht vor, dass man als Angehöriger eines Pflegefalls vom Land angestellt und versichert wird. Obwohl man noch keine Details kennt, wächst wegen der Erfahrungen aus dem Burgenland unter Pflegefällen und ihren Betreuern in Wien die Sorge vor einer „Kürzung des Pflegegeldes durch die Hintertür“ und anderen möglichen Nachteilen.

Die Pflegereform gehörte zu den ersten Themenbereichen, die die türkis-grüne Koalition nach ihrer Angelobung in Angriff genommen hatte. Doch wegen der Corona-Pandemie haben sich die Schwerpunkte im Gesundheits- und Sozialministerium ein wenig verschoben. Dabei hat die Krise die Situation vieler pflegender Angehöriger weiter verschärft. Dass ein Jahr nach der Ankündigung der Regierung nach wie vor kein schlüssiges Gesamtkonzept für eine Pflegereform vorliegt, hat nun zahlreiche Dach- und Berufsverbände sowie Trägerorganisationen zu einem offenen Brief an Minister Wolfgang Mückstein (Grüne) bewegt. Darin werden unter anderem ein Pflege-Gipfel und endlich „ernsthafte“ Schritte gefordert.

Den Vorwurf, dass bisher nichts weitergegangen sei, könne er nicht nachvollziehen, wie Mückstein in einer Pressekonferenz mit AK-Präsidentin Renate Anderl am Donnerstag erklärte. Aus dem Gesundheitsressort wird zudem betont, dass derzeit „mehrere Optionen“ diskutiert würden. Dabei seien auch die Unterstützung und Wertschätzung für pflegende Angehörige ein wichtiges Anliegen. Doch genau diese Wertschätzung empfinden Betroffene bei bereits durchgesickerten Ideen und Forderungen nicht. Sowohl ein möglicher Bonus in der Höhe von 1500 Euro im Jahr für pflegende Angehörige als auch eine Anstellung für ebendiese mit einem Gehalt in der Höhe von bis zu 1700 Euro netto pro Monat (ab Pflegestufe 5, Vollzeit) würden an der Realität vorbeigehen, heißt es gegenüber krone.at.

Sozialminister Wolfgang Mückstein (Grüne) und AK-Präsidentin Renate Anderl während einer Pressekonferenz zum Thema „Armutskrise verhindern“ in Wien (Bild: APA/Robert Jäger)
Sozialminister Wolfgang Mückstein (Grüne) und AK-Präsidentin Renate Anderl während einer Pressekonferenz zum Thema „Armutskrise verhindern“ in Wien

Eines ist klar, wie Studien und Umfragen zeigen: Eine breite Mehrheit der zu pflegenden Personen möchte zu Hause betreut werden. Außerdem ist die Pflege zu Hause günstiger als in sozialen Einrichtungen. In Österreich gibt es über 800.000 Menschen, die auf Pflege angewiesene Angehörige haben. Eine von ihnen ist Claudia Sengeis. Die Wienerin hat drei mittlerweile erwachsene Kinder mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und leitet auch eine Selbsthilfegruppe für Eltern, die in einer ähnlichen Situation sind. Daher weiß sie genau, wo bei der Pflege der Schuh drückt und wo die Reformen am notwendigsten wären.

Kundgebung gegen das burgenländische Modell in Wien (Bild: zVg)
Kundgebung gegen das burgenländische Modell in Wien

Es stimmt die 49-Jährige grundsätzlich positiv, „dass das Thema Pflege an und für sich wieder an Fahrt aufnimmt, nachdem es wegen der Corona-Pandemie gänzlich untergegangen ist“. Auch ein Bonus klinge zunächst nicht schlecht, meint Sengeis gegenüber krone.at. Allerdings wäre wirkliche Wertschätzung in ihren Augen, wenn man Angehörigen „endlich einmal zuhören würde, was sie tatsächlich benötigen“. Die Wienerin befürchtet, dass die angekündigte Reform ein „Reförmchen mit vielen Flicken“ wird. Sie glaubt auch nicht so recht an die türkise Versprechung und erinnert in diesem Zusammenhang an das gemeinsam mit dem vormaligen blauen Koalitionspartner zustande gebrachte Sozialhilfe-Grundgesetz inklusive Mindestsicherung neu, die in Teilen vom Verfassungsgerichtshof wieder aufgehoben wurde. In vielen Bereichen hat das neue Gesetz zu Kürzungen für die auf Hilfe angewiesenen Menschen geführt.

Anstellungsmodell: Skepsis bei ÖVP und grünem Minister
Unter anderem aus diesem Grund hat sich die Wiener Stadtregierung bisher geweigert, dieses Gesetz in die Landesgesetzgebung zu übernehmen. Doch der Wiener Sonderweg scheint auch bald zu Ende zu gehen, befürchtet Sengeis. Denn neben Verschärfungen bei der Mindestsicherung (Abschaffung des Beschäftigungsbonus Plus und der Vier-Monats-Frist für den Nachweis von Maßnahmen zur Erwerbsintegration) sympathisiert man auch mit dem burgenländischen Pflegemodell. Neben dem bereits erwähnten Gehalt sind die Pfleger aus dem familiären Umfeld sozialversichert und haben Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld.

Während die Landesregierung im Burgenland von einem „Erfolgsmodell“ spricht, das bereits weit über Österreichs Grenzen hinaus für Interesse sorge, lehnen es sowohl der ÖVP-Seniorenbund als auch das Hilfswerk ab. Auch Minister Mückstein scheint nicht so recht davon überzeugt zu sein. Hilfswerk-Geschäftsführerin Elisabeth Anselm verwies vor Kurzem darauf, dass das Durchschnittsalter der pflegenden Angehörigen bei 62 Jahren liege und daher die Anstellung nur für ein Drittel der Betroffenen relevant sei. Probleme gebe es mit dem Arbeitsrecht, der Qualifikation und der Haftung und außerdem sei die Bezahlung „unbefriedigend gelöst“.

In ähnliche Kerben schlägt auch Sengeis, die als Vertreterin der Selbsthilfegruppe Enthindert im Vorjahr auch den damaligen Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) im Zuge dessen Pflegereform-Dialogtour persönlich treffen konnte (siehe Bild unten). Ihr zufolge geht es vorwiegend um „Kontrolle und Kürzung des Pflegegeldes durch die Hintertür“. Zwischen 60 und 90 Prozent des Pflegegeldes müssten nämlich im Burgenland an jene Genossenschaft überwiesen werden, die einen anstellt. „Weiters fallen Beihilfen wie GIS-Gebührenbefreiung, Rezeptgebührenbefreiung etc. weg, weil man über dem Richtsatz ist.“

Claudia Sengeis (links) traf im Rahmen der Dialog-Tour des damaligen Sozialministers Rudolf Anschober (hier im Bild mit Andrea Kapounek, Geschäftsführerin des Hauses der Barmherzigkeit, und Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich) auch den Ex-Ressortchef. (Bild: APA/HANS PUNZ)
Claudia Sengeis (links) traf im Rahmen der Dialog-Tour des damaligen Sozialministers Rudolf Anschober (hier im Bild mit Andrea Kapounek, Geschäftsführerin des Hauses der Barmherzigkeit, und Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich) auch den Ex-Ressortchef.

Angst vor dem Verlust von Tagesbetreuungsplätzen
Zudem sei fraglich, ob Menschen mit Behinderungen, die Tagesbetreuungsstätten besuchen, in Zukunft bei Anwendung des Anstellungsmodells noch ihren Tagesstrukturplatz behalten dürfen. „Das würde bedeuten, dass Menschen mit Behinderungen 24 Stunden, sieben Tage die Woche zu Hause ausharren müssen. Ob das eine wirklich gute und faire Lösung ist?“, fragt Sengeis. „Wir wollen nicht länger ignoriert werden. Experten sollen nicht länger über unsere Köpfe hinweg entscheiden, was wir zu brauchen haben und was nicht“, fordert die Wienerin mehr Mitspracherecht.

Das von ihr und den Mitgliedern ihrer Initiative Enthindert präferierte Modell wäre „eine eigene Bedarfsgemeinschaft für pflegende Angehörige“ gewesen, „unabhängig vom gesamten Familieneinkommen, ab der Pflegestufe 3“. Eine Bedarfsgemeinschaft wird grundsätzlich von allen Mitgliedern eines gemeinsamen Haushalts gebildet. Allerdings gibt es hier zahlreiche Ausnahmen wie zum Beispiel bei Wohngemeinschaften oder auch im Falle eines Zusammenlebens eines verheirateten Paares mit den Eltern/Schwiegereltern. Dann bilden das Paar und die Eltern jeweils eine eigene Bedarfsgemeinschaft.

Im Büro von Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) versteht man durchaus die Sorgen der Menschen, allerdings werde es sich bei dem Anstellungsmodell „um einen kleinen Baustein, eine Option“ neben den bisherigen Möglichkeiten handeln, betont Pressesprecher Reinhard Krennhuber. „Wir werden das niemandem aufzwingen, das wird optional bleiben“, so Krennhuber weiter. Zu konkreten Punkten, die von Sengeis angesprochen werden, kann der Stadtratssprecher im krone.at-Gespräch aber noch nicht Stellung nehmen. Man sei noch „mitten in der Ausarbeitung des Konzepts“. Derzeit würden Experten alle Berechnungen durchführen. Das dürfte sich noch einige Monate hinziehen.

Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) (Bild: APA/HERBERT NEUBAUER)
Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ)

Es heißt weiterhin: Bitte warten!
Emil Goldberg vom Fonds Soziales Wien, das mit der Ausarbeitung des Wiener Modells beauftragt worden ist, versichert, dass man „in engem Kontakt mit dem Burgenland und Oberösterreich“ stehe. Daher verfüge man über die dortigen Erfahrungswerte. Die Situation in Wien sei aber allein schon aufgrund der größeren Zahl an Menschen eine ganz andere. Ob man das Anstellungsmodell zuerst für Menschen mit Behinderungen wie in Oberösterreich - dort startet das Modell im Herbst - oder doch in der Altenpflege „ausprobiert“, ist auch noch unklar. Das heißt also für diejenigen, um die es bei dieser Debatte geht: Bitte weiterhin warten!

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