Gegner oder Partner?

Hassliebe zur ÖVP: Die Gretchenfrage der NEOS

Politik
08.08.2021 06:00

Johann Wolfgang von Goethe lässt Gretchen seine Titelfigur Heinrich Faust fragen, wie er es mit der Religion hält. Faust verweigert die Antwort. Das passt zu den NEOS. Wie ist ihr Verhältnis zur ÖVP? Sebastian Kurz & Co. sind sowohl mit fast religiösem Eifer der Hauptgegner als auch ideologisch der naheliegende Regierungspartner.

1. Eine Standardfrage der Wahlforschung ist jene an Parteianhänger, wer ihnen als Koalitionspartner am liebsten wäre. Ein eindeutigeres Bild als unter den Wählern der NEOS gibt es dabei kaum: Neben eigenen Ministerträumen wollten drei Viertel nach der letzten Nationalratswahl 2019 genauso, dass die ÖVP regiert. Die anderen Parteien waren unter ferner liefen.

2. Wie passt das zur heftigen Gegnerschaft von NEOS-Politikern - etwa von Stephanie Krisper und Helmut Brandstätter im Ibizaausschuss - zu allem, was türkis ist und nach Kurz riecht? Natürlich haben die Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen viele Spitzenvertreter der ÖVP vom Bundeskanzler abwärts die Stimmungslage verändert. Insbesondere die Chatprotokolle rund um Postenschacher und andere Einflussnahmen taten das.

3. Wer Wähler der NEOS ist, sieht das Verhalten der ÖVP als schamlosen Machtmissbrauch. Mindestens mit einem frivolen Ausnutzen aller Grauzonen, welche die Rechtsordnung gerade noch erlaubt. Umgekehrt wurden die NEOS von Andreas Hanger (ÖVP) mit der Stasi - dem Ministerium für Staatssicherheit in der DDR - verglichen. Was extrem heftig war. Denn die Stasi hat Menschen bespitzelt, willkürlich verhaftet, gefoltert und Schauprozesse initiiert, um öffentlichkeitswirksam Gerichtsurteile gegen unschuldige Personen zu erreichen.

4. Empfindet man das in der ÖVP mehrheitlich so, gäbe es nur eine Schlussfolgerung: Die Türkisen und die „Rosafarbenen“ werden nie und nimmer ein Regierungspaar. Also müssten sich die NEOS längerfristig als eine Art Fundamentalopposition verstehen. Sie könnten ihre demokratiepolitische Aufgabe einfach darin sehen, die Mächtigen zu kontrollieren, ohne selbst Regierungsämter anzustreben. Oder jedenfalls ein solches Wollen als Koalition mit der ÖVP klar auszuschließen.

Gretchenfrage für Beate Meinl-Reisinger: „Nun sag, wie hast du es mit den Türkisen?“ (Bild: Reinhard Holl)
Gretchenfrage für Beate Meinl-Reisinger: „Nun sag, wie hast du es mit den Türkisen?“

5. Schließlich hat man in Wahlen und Umfragen mehr türkis-rosa Wechselwähler gewonnen als verloren. Solange die ÖVP Hunderttausende rechtsnationale Stimmen von der FPÖ holt, kann sie sogar gut damit leben, wenn Zehntausende liberale Bürgerliche abwandern. Hilft daher der wilde Streit zwischen ÖVP und NEOS beiden Parteien? Nicht auf längere Sicht.

6. Die NEOS wollen regieren. Das Motto ihrer Wähler lautet gleichfalls: „Kontrolle ist gut, Regieren aber viel besser!“ Eine Regierungsbeteiligung wird mehr als doppelt so sehr gewünscht wie oppositionelle Kontrolle. Eine Dreierkoalition mit SPÖ und Grünen hat dabei bisher stets wenig Zustimmung gehabt, selbst wenn es sich ausgegangen wäre. Logischer Partner ist vielmehr die ÖVP.

7. Vor allem in der Wirtschaftspolitik steht man der ÖVP viel näher als irgendjemand sonst. Von Bildung bis Soziales könnte man sich in Koalitionsverhandlungen relativ schnell einigen. Zahlreiche Führungspersonen der NEOS haben ihre Wurzeln in der ÖVP. Daher kann man von der Ideologie und vielen Themenbezügen her gar nicht so verschieden sein.

8. Die Parteivorsitzende Beate Meinl-Reisinger war im Büro von Christine Marek, Ex-Vorsitzende der Wiener ÖVP - dieser gehört auch Kanzler Kurz an -, und somit Amtsvorgängerin von Finanzminister Gernot Blümel. Dass die NEOS sich in Wien mit der SPÖ gepaart haben, war nur der Tatsache geschuldet, dass man um fast jeden Preis mitregieren wollte - und weil Bürgermeister Michael Ludwig sich den kleinstmöglichen Partner ausgesucht hat.

9. Das Ergebnis dieser strategischen Rahmenbedingungen ist, dass die NEOS einen Eiertanz vollführen, wenn man sie nach der ÖVP fragt. Brandstätter etwa schimpft als Pawlow’scher Reflex sofort los, sobald der Name Kurz fällt. Meinl-Reisinger hingegen jongliert mit Wörtern, dass sich eine gemeinsame Regierung schwer ausgeht, jedoch nicht unmöglich sei. Thematisch ist man von der Senkung von Unternehmenssteuern bis zu trotz Corona unbedingt offenen Schulen der ÖVP nahe, ohne das deutlich sagen zu wollen.

10. Ach ja, die nächste Wahl findet natürlich nicht auf Bundesebene statt. Sondern am 26. September in Oberösterreich. Da geht es für die NEOS um sehr, sehr, sehr viel. Bisher ist die Partei nämlich in drei Landtagen - Burgenland, Kärnten und eben Oberösterreich - nicht vertreten. Demzufolge wird das drittgrößte Bundesland in acht Wochen zum Elchtest für die NEIOS, wie man mit dem Kurs einer seltsamen Hassliebe zur ÖVP fährt.

Info
Am Montag beginnen im ORF die traditionellen Sommergespräche mit den Chefs der Parlamentsparteien. Erster Gast bei Lou Lorenz-Dittlbacher ist Beate Meinl-Reisinger von den NEOS. Ihr Auftritt wird unmittelbar nachher von Doris Vettermann („Krone“) und Peter Filzmaier in der „ZIB 2“ analysiert. Außerdem gibt es wie jeden Sommer eine fünfteilige „Krone“-Sonntagsserie zur Lage der jeweiligen Partei.

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