Dem Bundeskanzler und neun - zum Teil aus seinem engsten Umfeld stammenden - Beschuldigten werden Untreue, Bestechlichkeit und Bestechung oder mindestens Beihilfe dazu vorgeworfen. Rechtlich gilt die Unschuldsvermutung. Politisch steht die Bundesregierung angesichts der schwerwiegenden und in einem 104-seitigen Antrag der Staatsanwaltschaft begründeten Vorwürfe auf der Kippe.
1. Damit befindet sich Österreich zwei Jahre nach dem Ibiza-Video schon wieder in einer Staats- und Regierungskrise. Wie kann es weitergehen? Wenn sich ÖVP und Grüne einig sind, unverändert miteinander regieren zu wollen, ist das bis zum plangemäßen Wahltermin 2024 möglich. Weil ja in diesem Fall Misstrauensanträge gegen Sebastian Kurz im Nationalrat keine Mehrheit finden. Nur der Bundespräsident könnte nach Artikel 70 unserer Verfassung den Kanzler entlassen, wird das jedoch von sich aus kaum vor einer Anklage tun.
2. Doch muss jedem klar sein, dass selbst bei einem Fortbestand der aktuellen Regierung das Land vor einer Zerreißprobe stehen würde. Die Stimmungslage ist derart angespannt und polarisiert, dass es fast keine neutralen Beobachter gibt. Gefühlsmäßig denken sich die einen mit vollster Überzeugung, Kanzler Kurz habe zurückzutreten. Die anderen sind mit gleicher Inbrunst überzeugt, das alles sei nur eine Verschwörung.
3. Der typisch österreichische Weg – „Warten wir einfach mal ab!“ – funktioniert hier nicht. Denn das Ermittlungsverfahren gegen Kurz und seine Mitbeschuldigten dauert viele Monate. Ein allfälliger Prozess mit Berufungsmöglichkeiten für Angeklagte und den Staatsanwalt zieht sich über Jahre.
4. Am Donnerstag verschärfte sich die Situation, weil die Grünen von Kurz abrückten, obwohl sie das bei den ebenfalls strafrechtlichen Vorwürfen einer Falschaussage des Kanzlers nicht taten. Offiziell begründet Vizekanzler Werner Kogler seinen Meinungswechsel mit Zweifel an der „Handlungsfähigkeit“ des Bundeskanzlers.
5. Natürlich könnten Kurz, sein Kanzleramt und die Regierung trotz der Korruptionsvorwürfe weiterhin Verordnungen erlassen oder Verträge abschließen, die rechtsgültig sind. Doch wer glaubt, dass des Kanzlers Leute momentan nicht vor allem mit sich selbst beschäftigt sind? Wie soll da genug Zeit für Budgetplanung, Corona-Pandemie & Co. bleiben?
6. Man kann vermuten, dass der Gesinnungswandel von Kogler damit zusammenhängt, dass die Grünen uneinig sind. Gibt es unter ihren 26 Abgeordneten im Nationalrat sechs Abweichler, verliert die Regierung die parlamentarische Mehrheit - und Kurz kann abberufen werden. Eine Kampfabstimmung auf offener Parlaments- und Medienbühne können und wollen die Grünen sich nicht leisten.
7. Plan A als grüne Lieblingsvariante ist, dass die Regierung mit einer anderen Person aus der ÖVP als Kanzler weitermacht. Kurz wäre weg und die Situation entschärft. Das freilich hat die ÖVP ausgeschlossen, also muss ein Plan B her. Wenn ein Misstrauensantrag gegen Sebastian Kurz eine Mehrheit findet, muss der Bundespräsident ihn unverzüglich seines Amtes entheben.
8. Den Misstrauensantrag kann man je nach persönlicher Meinung gut oder schlecht finden, doch ist ein solcher verfassungsgemäß vorgesehen. Was in der Verfassung steht, ist kein politisches Problem. Der Haken ist, wie das Fortsetzungsszenario aussieht. Vermutlich würde die ÖVP sofort einen Neuwahlantrag stellen. Doch aufgrund der gesetzlichen Fristen können diese Wahlen nicht vor 2022 stattfinden.
9. Daher muss der Bundespräsident auf jeden Fall einen Übergangskanzler ernennen. Wen soll er da nehmen? Irgendwen von der ÖVP, den Kurz will? Oder eine Person aus den Reihen von Grünen, SPÖ, FPÖ oder NEOS, falls diese sich einigen? Oder sucht Alexander Van der Bellen nach unabhängigen Experten? Wer macht in all diesen Fällen als Minister weiter?
10. Selbst wenn es „nur“ um ein paar Monate bis zur Wahl ginge, wäre das sehr heikel und schwierig zu beantworten. Zudem sind vielleicht alle Parteien außer der ÖVP gegen vorgezogene Neuwahlen. Das führt zum Regierungswechsel ohne solche und ist gleichfalls der Verfassung entsprechend. Nur müsste dafür Punkt 8 so gut gelöst werden, dass die Sache - also die neue Regierung - für drei Jahre hält. Wie das gehen soll, weiß derzeit keiner.
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