Österreich hat eine spezielle Rücktrittskultur. Meist harrt man bis zuletzt aus, selbst wenn die Justiz ermittelt. Wenn es dann so weit ist, passiert es nicht selten auf spektakuläre Art.
Es ist der 1. Mai 2016. Rathausplatz. Traditionelles Feiern der SPÖ in Wien. Als Werner Faymann zum Mikro schreitet und das Wort ergreift, pfeift die Masse darauf heftig. Letzter Frustauslöser: die verschärfte Asylpolitik. Acht Tage später. Der SPÖ-Bundeskanzler tritt spontan und spektakulär zurück. Ohne einen Nachfolger zu präsentieren. Ein Novum. Christian Kern folgt. Auch er wird überraschend zurücktreten.
Legendär Fred Sinowatz. Nach der Wahl von Kurt Waldheim 1986 zum Präsidenten und Vorwürfen, er habe die Debatten zur NS-Vergangenheit des ÖVP-Kandidaten befeuert, übergab er an Franz Vranitzky. Es waren unruhige Zeiten. Das sind sie auch heute.
Selbst Ermittlungen der Justiz stören meistens nicht
Die Rücktrittskultur im Land ist bemerkenswert. Selbst bei Ermittlungen der Justiz bleibt man gerne im Sattel. Siehe zuletzt die türkise Riege. Erst wenn der Rückhalt in Bevölkerung und Partei schwindet, wird mehr oder weniger freiwillig ab- oder zur Seite getreten.
Ein brisantes Duell und viele turbulente Jahre
Im Sommer 2017 kommt es zum Showdown an der ÖVP-Spitze. Reinhold „Django“ Mitterlehner gegen Sebastian „The Kid“ Kurz. Der Ältere gibt nach. Die Ära Kurz endet mit Ermittlungen und Rücktritten. Erst auf Druck von mächtigen Landeschefs in Kombination mit unangenehmen Umfrageergebnissen. In Deutschland wäre, meinen Beobachter aus Deutschland, so etwas undenkbar. Ermittlungen gegen Merkel und Teile des Kabinetts? Da wäre es wohl rasch vorbei. In letzter Zeit gab es in Österreich Rücktritte zur Genüge. Die turbulente Phase beginnt mit Mai 2019. Ibiza. FPÖ-Vizekanzler Strache musste weichen, Kurz bat den Bundespräsidenten um Entlassung von Innenminister Kickl. Die Geschichte hat noch viele interessante Rücktritte parat.
Aus freien Stücken geschahen die selten. Karl Blecha etwa (Innenminister) trat 1989 wegen Lucona und Noricum zurück. Speziell ist der Fall von Gesundheitsministerin Ingrid Leodolter 1979. Sie war mit Vorwürfen wegen Auftragsvergaben konfrontiert. Sie erfuhr von ihrem Rücktritt aus der Zeitung.
„Viele Männer überschätzen sich“
Wie nehmen sich Männer in mächtigen Ämtern wahr, wieso treten sie im Gegensatz zu Frauen so schwer zurück? Karrierecoachin Katja Radlgruber aus Wien weiß Bescheid.
Wieso tun sich Männer so schwer, von mächtigen Ämtern zurückzutreten?
Viele Männer überschätzen sich, weil sie ihre Arbeit einfach anders wahrnehmen. Vergleichen sich eine Frau und ein Mann, die objektiv gleich qualifiziert sind, würde sich der Mann statistisch gesehen besser bewerten als die Frau. Aber man sieht das auch international. Donald Trump trat als US-Präsident nicht zurück, obwohl er sich viele Fehltritte leistete. Er ließ Kritik einfach nicht so nah an sich heran.
Die Grünen-Politikerin Ulrike Lunacek ist 2020 als Kulturstaatssekretärin zurückgetreten, weil sie am Anfang der Corona-Krise kritisiert wurde, nichts für die Kulturschaffenden getan zu haben. War das für Sie ein typisch weibliches Verhalten?
Frauen wollen allen gefallen, vor allem in der Rolle als Politikerin ist das aber nicht immer möglich.
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