Historischer Unsinn

Neutralität: Wo Kanzler, Kickl & Co. falschliegen

Politik
13.03.2022 14:01

Herbert Kickl, Bundesparteiobmann der FPÖ, wäre in einer Geschichtsprüfung durchgefallen. Er sagte in einer auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bezogenen Rede im Parlament, dass unsere Neutralität im ersten Artikel des Staatsvertrags steht. Nein. Das ist Unsinn. Warum jedoch sind Debatten über den neutralen Status Österreichs derart von Halb- und Nichtwissen geprägt?

1.) Im ersten Artikel unseres Staatsvertrags steht, dass die vier Alliierten Mächte aus dem Zweiten Weltkrieg - also neben der UdSSR (Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vulgo Sowjetunion) auch die USA, Großbritannien und Frankreich - die Wiederherstellung von Österreich als souveränen, unabhängigen und demokratischen Staat anerkennen. In neun Teilen, 38 Artikeln sowie vielen Anhängen des beim Abdruck im Bundesgesetzblatt 86 Seiten umfassenden Staatsvertrags kommt das Wort Neutralität kein einziges Mal vor.

2.) Kickls Aussage ist schlicht falsch. Jetzt aber spöttisch mit dem Finger auf ihn zu zeigen, das wäre nicht einmal der halbe Teil der Wahrheit. Von Bundeskanzler Karl Nehammer bis zur Chefin der SPÖ, Pamela Rendi-Wagner, wurden in den letzten Tagen ebenfalls historische Falschaussagen verzapft. Nehammer behauptete einen Zusammenhang des am 24. Juni 1947 von Österreich beantragten Beitritts zur UNO mit dem Neutralitätsgesetz vom 26. Oktober 1955. Was nicht stimmt.

FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl (Bild: APA/Robert Jäger)
FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl

3.) Rendi-Wagner wiederum wollte nichts davon wissen, dass politisch „die Russen“ - damals als UdSSR - Österreichs Neutralität zur Bedingung für unsere Unabhängigkeit machten. Unser Bundesverfassungsgesetz von vor heuer 66 Jahren für eine „immerwährende“ Neutralität wurde formal aus freien Stücken beschlossen, und war doch der politische Preis oder Mittel zum Zweck, um möglichst rasch unabhängig zu werden.

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, im Hintergrund Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) (Bild: APA/Roland Schlager)
SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner, im Hintergrund Kanzler Karl Nehammer (ÖVP)

4.) Danach wurde die Neutralität weit über rechtliche und politische Aspekte hinaus ein Identifikationsmerkmal für die Bevölkerung und beispielsweise sogar als Garantie für den wirtschaftlichen Fortschritt gesehen. Das war absurd, weil Österreich nie einen neutralen Mittelweg zwischen unserer Marktwirtschaft und der kommunistischen Planwirtschaft verfolgte. So aber entstand ein Mythos voller Emotionen statt Sachdebatten.

5.) Unbestritten war die Neutralität lange das Markenzeichen Österreichs in seiner Außenpolitik. Obwohl einst die damalige Oppositionspartei ÖVP Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ) für seine Gleichsetzung von Außen- und Neutralitätspolitik kritisierte, gab es im Kalten Krieg - die Auseinandersetzung des „Westens“ in Form der NATO mit dem Ostblock und dessen Militärbündnis Warschauer Pakt bis 1989 - keine Zweifel am Sinn der Neutralität.

Bruno Kreisky (Bild: APA/Robert Jäger)
Bruno Kreisky

6.) Seit dem Zerfall von UdSSR und Ostblock sowie der Mitgliedschaft Österreichs in der EU reden unsere Politiker um den heißen Brei herum, dass sich die Neutralität stark verändert hat. Ausdrücke wie „internationale Solidarität“ und „realistische Neutralitätspolitik“ (Ex-ÖVP-Vizekanzler Alois Mock) oder der von Völkerrechtlern verwendete Begriff „differentielle Neutralität“ bedeuten nichts anderes als das.

7.) Österreich hat im Jugoslawienkrieg klar für Slowenien und Kroatien sowie später Bosnien Partei ergriffen. Im Golfkrieg erlaubten wir nach einem Beschluss des Sicherheitsrates der UNO Kriegsflüge und Waffentransporte durch österreichisches Staatsgebiet. Und so weiter und so fort. Ein Grund dafür war, dass man schlecht von anderen Staaten verlangen kann, Österreich wolle sich als Trittbrettfahrer von deren militärischer Stärke indirekt schützen lassen, ohne selbst je die Nase in den Wind zu halten.

Jugoslawische Panzer unterwegs Richtung Österreich (Archivbild) (Bild: Gepa/AP/picturedesk.com)
Jugoslawische Panzer unterwegs Richtung Österreich (Archivbild)

8.) Wieso hat sich der Status Österreichs als neutrales Land trotzdem seit 1955 offiziell kaum verändert? Politisch sind heilige Kühe noch schwieriger zu schlachten als in religiöser Hinsicht. Bundeskanzler Nehammer hat versucht, die aufkommende Debatte über unsere Neutralität sofort wieder zu beenden, weil er und auch keine andere größere Partei gegen vier Fünftel der Wähler anreden will.

9.) Was immer sicherheitspolitisch objektiv am besten ist: Es gab stets klare Mehrheiten für die Neutralität, welche in Krisen- und Kriegszeiten noch klarer sind. Die Befürwortung des Neutralseins stieg beim Kosovokonflikt 1999 genauso um rund 10 Prozentpunkte wie nach den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 und nun nach dem Beginn des Krieges von Russland gegen die Ukraine.

Peter Filzmaier ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität für Weiterbildung Krems und der Karl-Franzens-Universität Graz. (Bild: Sepp Pail)
Peter Filzmaier ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität für Weiterbildung Krems und der Karl-Franzens-Universität Graz.

10.) Da ist es verständlich, dass zwar Experten die Neutralität als „prominenten Untoten“ - so der Politikwissenschafter Anton Pelinka - bezeichnen, aber fast kein Politiker über sie diskutieren will. Einerseits sollte man aber bitte, siehe oben, bei Bekenntnissen zur Neutralität auf geschichtliche Unwahrheiten verzichten. Andererseits zeigen das Beispiel der Ukraine und Schwedens NATO-Debatte, dass keinem Land die Frage erspart bleibt, ob wir als neutraler Staat oder im Rahmen eines Militärbündnisses sicherer sind.

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