Filzmaier analysiert

Die große Empörung: Politiker, Medien und wir

Politik
10.04.2022 11:46

Der Bundeskanzler war stinksauer. Zwei betrunkene Leibwächter seiner Familie hatten einen Autounfall verursacht. Zu den näheren Umständen brachte die SPÖ eine parlamentarische Anfrage ein. Was Karl Nehammer und die ÖVP auf die Palme brachte. Die seltsame Posse zeigte auch ein kompliziertes Dreiecksverhältnis von Politik, Medien und Wählerschaft. Empörung wird sowohl politisch inszeniert als auch ist sie für alle Zuseher ein Volkssport.

Was war passiert? Der rote Sicherheitssprecher zitierte aus einem anonymen Brief, welcher für die „bsoffene Gschicht“ sowohl politische Interventionen unterstellte als auch Details aus dem Alltag der Kanzlerkinder beinhaltete. Woraufhin seitens des türkis-schwarzen Kanzlers extra eine Pressekonferenz einberufen wurde, um Ersteres empört als Lüge zu bezeichnen sowie vor allem Zweiteres als Sicherheitsgefährdung seiner Sprösslinge zu empfinden.

Ob die Sache ein handfester Skandal oder nicht einmal ein Skandälchen ist, das hängt klarerweise davon ab, ob die trinkfreudigen Polizisten der Cobra - oder gar ihre Vorgesetzten auf politischen Zuruf hin, was Nehammer energisch dementierte - etwas vertuscht haben. Konkret geht es darum, ob das Saufgelage wirklich „nach Ende der Dienstzeit“ war, oder sozusagen bloß in einer beschönigenden Darstellung örtlich und zeitlich dorthin verlegt wurde. Dazu soll der angefragte Innenminister Auskunft geben, und das können Journalisten seriös recherchieren. Kinder jedoch sind herauszuhalten. Punkt und aus.

Was die Sache aber mit den Medien, uns allen und der Schauspielerin Barbara Streisand zu tun hat? 2003 wurden 12.000 Fotos der kalifornischen Küstenlinie gemacht. Darauf waren viele Luxushäuser zu sehen. Eines davon gehörte Streisand. Was niemand wusste und keinen interessiert hätte. Doch die gute Barbara fühlte sich in ihrer Privatsphäre verletzt und klagte auf 50 Millionen Dollar. Wodurch sich natürlich jedermann erst recht das Bild ihres Hauses anschaute. Privat blieb da gar nichts mehr.

Barbara Streisand (Bild: AFP/Getty Images)
Barbara Streisand

Seitdem spricht man in der Kommunikationswissenschaft von einem Streisand-Effekt, wenn beim Versuch einer Unterdrückung von persönlichen Informationen das genaue Gegenteil erreicht wird: dass nämlich besagte „Infos“ besonders vielen Menschen bekannt werden. Exakt das ist Kanzler Nehammer widerfahren. Erst durch seine Pressekonferenz machte er selbst die Promilleaffäre seiner Leibwächter zum Thema für die breite Öffentlichkeit.

Jedem darf der Kragen platzen
Der Anlassfall machte deutlich, wie sehr Politik und Medien oft weniger professionell als gefühlsbetont miteinander umgehen. Jedem darf der Kragen platzen, doch warum wird dafür eigens ein vorbereitetes Medienereignis geschaffen? Nichts anderes war Nehammers Pressekonferenz. Genauso hätten freilich die dort anwesenden Medienvertreter das vom Kanzler geworfene Empörungshölzchen nicht superschnell aufgreifen müssen.

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) (Bild: APA/GEORG HOCHMUTH)
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP)

Außerdem stellt sich die Frage, wie wir alle mit Politikern umgehen, Medien nutzen und uns auf Facebook, Twitter & Co. verhalten. Ganze Heerscharen virtueller Kommentatoren verbreiteten im Internet genüsslich, wo alles über das Leben der Kinder eines Politikers nachzulesen war, obwohl mindestens 99 Prozent davon uns nichts angehen. Noch seltsamer argumentierten ein paar Möchtegernaktivisten: Weil Nehammer als Innenminister korrekterweise die nach heutigem Stand rechtswidrige Abschiebung von Flüchtlingskindern vorgeworfen wird, könne man ja nun ruhig auch seine Kinder durch den Kakao ziehen.

Ein früheres Unrecht der einen Seite kann - frei nach dem Schriftsteller Erich Fried - nicht späteres Unrecht der anderen Seite rechtfertigen. Doch in diese Richtung bewegt sich die Empörungskultur unserer Gesellschaft. Bei den Politikern, in den Medien und letztlich in unser aller Köpfe. Wilde Emotionen dominieren, während Fakten kaum jemanden interessieren.

Demokratie bedeutet, dass - so der Soziologe Max Weber - Politiker einer hohen Verantwortungs- und Gesinnungsethik folgen müssen. Sie haben die Folgen ihres Handelns zu bedenken und sich zu bemühen, das moralisch Richtige zu tun. Für Journalisten gilt derselbe Maßstab. Im Umkehrschluss sollte niemand in der Politik unser Freiwild für Unterstellungen sein. Trotz Dauerbeobachtung haben Politiker ein Recht auf Privatheit. Scharfe Kritik ist wichtig, aber konkret auf einen politischen Sachzusammenhang bezogen. Nicht als persönliche Beleidigung oder verallgemeinerndes Schimpfen auf inklusive Gemeindeebene über 40.000 Politiker in Österreich.

Peter Filzmaier, Professor für Politikwissenschaft an der Universität für Weiterbildung Krems und der Karl-Franzens-Universität Graz, analysiert für die „Krone“. (Bild: Sepp Pail)
Peter Filzmaier, Professor für Politikwissenschaft an der Universität für Weiterbildung Krems und der Karl-Franzens-Universität Graz, analysiert für die „Krone“.

Empörung einzige Verbindung zwischen Volk und Politikern
In einer deutschen Umfrage sagten 95 Prozent der über Politiker Schimpfenden, nichts über deren Alltag zu wissen. Gleichzeitig wird Parteipolitikern der Vorwurf gemacht, irgendwo „da oben“ die Alltagssorgen der Bevölkerung nicht zu kennen. Die Distanz zwischen Volk und Volksvertretern ist so groß, dass die beschriebene wechselweise Empörung die einzige Verbindung ist. Medien sind hier zugegeben oft keine Vermittler, sondern spielen empörte Politiker und empörtes Volk zwecks Quote und Reichweite gegeneinander aus.

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