Einen schönen Montagabend.
Ich weiß nicht, wie in manchen Redaktionen Wahlumfragen gestaltet werden, ich möchte auch niemanden zu nahetreten, deswegen erfinde ich ein absurdes Beispiel bar jeder Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig, für meine Fantasie gilt die Unschuldsvermutung. Ort des fiktiven Geschehens ist ein Newsroom in der Wiener Innenstadt Mitte vergangener Woche. Herausgeber Woiferl (Name von der Redaktion geändert) sieht sich als Mediengröße, was ihm jeder Kardiologe bestätigen wird. Er schlurft im Bademantel (aktueller Zustand: derzeit noch vorne öffenbar) spätnachts durch das Großraumbüro, in dem auch tagsüber mittlerweile weniger los ist als im Zukunftslabor der SPÖ. Beim Notausgang sitzt ein Mitarbeiter mit posttraumatischer Belastungsstörung, der sich seit 2006 nicht mehr nach Hause traut, vor seinem Computer und versucht verschlüsselte Botschaften an einen Opferschutzverein zu senden. Mit Familien und Freunden kommuniziert der Mitarbeiter wie einst die Mafia über Inserate in der eigenen Zeitung. Eine Win-win-Situation. So wissen seine Liebsten, dass er lebt, und der Chef ist an den meisten Tagen halbwegs gut zu ihm, weil Kohle reinkommt.
Woiferl schleppt sich zum Mitarbeiter und sagt: „Heast, Depperter, wer gwinnt am Sonntag die Wahl in Tirol?“ Der Mitarbeiter vermeidet Augenkontakt, denn das macht den Boss wütend, er antwortet flüsternd: „Die ÖVP verliert massiv. Ein Dreier vorne geht sich nicht mehr aus.“ Das hat ihm die Redaktions-Putzfrau erzählt, die es vom Essenslieferanten ihres Onkels weiß, der in der Wohnung unter der Schulfreundin einer Yoga-Lehrerin wohnt, die einen Sohn aus zweiter Ehe hat, der eine Frau namens Beinstab oder so beim Einkaufen belauschte, wie sie mit dem Angestellten der Feinkost genau über dieses Thema sprach. Die machte mal was mit Umfragen, hieß es. Ein kräftiges Minus für die ÖVP. Das gefällt dem Chef, denn beim Scheitern anderer stellen sich noch Gefühle ein. Aber Woiferl ist ein Profi, er weiß, dass für eine Umfrage zumindest Onlinebefragungen notwendig sind, das Wort steckt ja schon drinnen. Zurück in seinem Büro brüllt er seine Sprachassistentin von Amazon an: „Alexa, wer gwinnt am Sonntag die Tirolwahl?“
Alexa: „Das weiß ich leider nicht.“
„Na a Stimme für die ÖVP ist des net gerade“, jubiliert der Herausgeber. Die Umfrage ist fertig.
Wie gesagt, alles an den Haaren herbeigezogen. So würde ein Herausgeber heutzutage niemals mit der Wahrheit oder seinen Mitarbeitern umgehen. Und trotzdem: Ich habe mir die letzte Grafik eines periodischen Druckwerks, benannt nach einem Land mit neun Millionen Einwohnern, angesehen. Sie wurde auch von dem Medienhaus in Auftrag gegeben. Dort holte sich die Tiroler ÖVP gerade einmal 27 Prozent. Online-Interviews mit 573 Teilnehmern, angegebene maximale Schwankungsbreite: plus/minus 4,1 Prozent. Auch bei völliger Ausreizung dieser Schwankungsbreite wäre der Plafond bei 31,1 Prozent erreicht gewesen. Die Volkspartei aber holte gestern 34,7 Prozent. Das ist beinahe die doppelte Schwankungsbreite. Selbst wenn ich schwer schwankend Tarotkarten in ein Eck werfe: Meine Prognosen wären näher an der Wahrheit als diese „Umfragen“. Es ist eine Schande.
Ich wünsche einen schönen Feierabend, so Sie einen haben.
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