Hintergrund

Fragen und Antworten zum Thermofenster-Urteil

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26.06.2023 15:37

Der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) hat nach einem wegweisenden Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) seine Rechtsprechung im Streit über Schadenersatz für Diesel-Autos mit Thermofenster geändert. Erstmals ist damit Schadenersatz grundsätzlich möglich, wenn es sich bei einer temperaturgesteuerten Abgasreinigung um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt. Das Grundsatzurteil betrifft Klagen von Kunden gegen Audi, Mercedes-Benz und Volkswagen.

Um welche Technik geht es?
Der Begriff „Thermofenster“ steht für eine von der Außentemperatur abhängige Steuerung der Abgasreinigung von Diesel-Autos, die den Stickoxid-Ausstoß reduziert. Zu viel Stickoxid in der Umwelt kann zu Atemwegserkrankungen bis hin zum vorzeitigen Tod führen. Die Abgasreinigung erfolgt bei Dieselmotoren über die Abgasrückführung, bei der ein Teil zurück in das Ansaugsystem des Motors geführt und dort erneut verbrannt wird. Bei kühleren und hohen Temperaturen kann die Abgasrückführung reduziert werden, um den Motor etwa vor Ablagerungen zu schützen. Der Temperaturbereich, in dem die Abgasreinigung wirkt, wird als Thermofenster bezeichnet.

Das ist zu unterscheiden von der Software-Manipulation im Diesel-Skandal, wo die Abgasreinigung nur zur Typgenehmigung auf dem Prüfstand von Behörden ordnungsgemäß funktionierte. Auf der Straße waren die Emissionen der VW-Autos aber viel höher als erlaubt. Das war Betrug, für den der Wolfsburger Konzern hohen Schadenersatz leisten musste.

Wie groß darf das Thermofenster sein?
Im Gefolge des VW-Dieselskandals kam die Thermofenster-Technik unter Beschuss. Autohersteller hatten die Option dazu im EU-Recht sehr großzügig angewendet, sodass bei vielen Modellen der Temperaturbereich einer ordnungsgemäßen Abgasreinigung schmal war - das Thermofenster also klein. Die Autos stoßen über weite Teile des Jahres deshalb zu viel Stickoxid aus. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) urteilte im vergangenen Jahr im Fall eines VW-Fahrzeugs, dass eine Reinigung, die nur zwischen 15 und 33 Grad Celsius funktioniert, eine unzulässige Abschalteinrichtung ist.

Um welche Modelle ging es am BGH?
In den jetzt entschiedenen Fällen geht es um den VW-Motor des Typs EA 288, der in einem VW Passat des Baujahres 2016 eingebaut war. Bei Mercedes fordert ein Käufer Schadenersatz für eine 2017 erworbene C-Klasse mit dem Motor OM 651. Der Audi-Kunde klagte zu einem SQ5 mit dem Motor der Baureihe EA 896Gen2BiT, den er 2018 angeschafft hatte. Alle drei Motoren der Schadstoffklasse Euro 6 haben eine Typgenehmigung des Kraftfahrt-Bundesamtes. Audi hatte auf Geheiß des Amtes bereits ein Software-Update zum Thermofenster aufgespielt.

Wie viele Fälle gibt es insgesamt?
Die Entscheidung ist wegweisend für rund 2100 Verfahren am BGH selbst und schätzungsweise fast 100.000 anhängige Klagen an unteren Instanzen. Neue Klagen könnten hinzukommen. Für die deutschen Rechtsschutzversicherer sind Prozesse aller Facetten im Diesel-Skandal der teuerste Schaden ihrer Geschichte, wie der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) erklärte. Fast 420.000 Kunden nutzten demnach seit 2015 für Diesel-Klagen ihre Rechtsschutzversicherungen. Diese hätten mittlerweile 1,52 Milliarden Euro an Anwalts-, Gerichts- und Gutachterkosten beglichen. Der Streitwert belaufe sich auf 26.100 Euro pro Auto im Schnitt. Das BGH-Urteil könne Fallzahlen und Prozesskosten weiter steigen lassen, erklärte der GDV.

Wie sind die Aussichten auf Schadenersatz?
Bisher wurden grundlegende Sachverhalte in Gerichtsverfahren nicht geklärt, weil aus rechtstechnischen Gründen Schadenersatz abgelehnt worden war. Um das Blatt zu wenden, müssen Kläger die Existenz einer unzulässigen Abschalteinrichtung aufzeigen. Der Hersteller kann das widerlegen, wenn er das ordnungsgemäße Funktionieren der Abgasreinigung - also ein ausreichend großes Thermofenster - nachweist. Ausgangsbasis zur Berechnung des Schadenersatzes ist eine Spanne von fünf bis 15 Prozent des Kaufpreises. Wenn eine anzurechnende Nutzungsentschädigung und der Restwert des Wagens zusammen niedriger als der um bis zu 15 Prozent geminderte Kaufpreis ist, kann Schadenersatz fließen.

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