Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) über die PR-Show des Sebastian Kurz, warum am Neuwahl-Gerücht nichts dran ist und dass er außerordentliche Grenzkontrollen zu Italien will, weil die Situation in Lampedusa (siehe auch aktuelle Aufnahmen oben) eskaliert.
„Krone“: Eine ironische Frage zum Start: Haben Sie den Termin mit Sebastian Kurz koordiniert, damit die Verwendung von 1,2 Milliarden Steuergeld nicht wie die Kindergartenmilliarden wegen einer neuen PR-Aktivität des Sebastian Kurz untergeht?
Karl Nehammer: Eindrucksvoll ist für mich, welche Wirkung Sebastian Kurz nach wie vor auf die veröffentlichte Meinung hat. Aber keine Sorge, als Regierung bearbeiten wir so viele Themen, die wir in der Öffentlichkeit darstellen können.
Die Regierung feiert, dass die schleichende Steuererhöhung mit dem letzten Drittel komplett abgeschafft wurde. Die Kritiker sagen, das sei keine Entlastung, sondern nur keine zusätzliche Belastung. Hätte man auch bei den Lohn-Nebenkosten etwas bewegen müssen? Mehr Netto vom Brutto würde auch Druck aus den bevorstehenden Lohnverhandlungen nehmen ...
Ich finde, hier muss man unterscheiden. Wichtig ist, dass die Kalte Progression oder anders gesagt, der Lohnfraß, der ständig stattgefunden hat, definitiv von unserer Regierung abgeschafft wurde, nachdem das über Jahrzehnte von vorigen Regierungen versprochen wurde. Wir haben die Abschaffung der Kalten Progression so gestaltet, dass bei einem Gesamtvolumen von 3,6 Milliarden rund 1,2 Milliarden noch übrig waren, wo der Staat aktiv nochmals eingreifen konnte. Hier haben wir den Weg der Mitte gefunden - wo Eltern nochmals entlastet werden und auch jene, die Mehrarbeit in Form von Überstunden leisten. Wie sich der Wirtschaftsmarkt entwickelt, ist eine andere Sache. In der Politik müssen wir hier eher darauf schauen, wie das innovative Unternehmertum in Österreich, weiter die Chance bekommt, sich zu entwickeln.
Fiskalrat-Chef Christoph Badelt, der das Paket grundsätzlich positiv bewertet hat, warnt, dass für 2024, wo eine Rezession in Deutschland droht, nun finanzielle Spielräume fehlen …
Natürlich ist die deutsche Entwicklung eine, die einen nachdenklich stimmt. Wir haben anders als Deutschland mit unserem Mittelweg stärker auf die Kaufkraft gesetzt, durch Hilfsmaßnahmen. Gleichzeitig hat sich die Industrie schon umgestellt und verstärkt in den West-Balkan investiert. Sie ist resilienter gegenüber diesen Entwicklungen. Aber was sind die österreichischen Fakten: Wir können derzeit 200.000 offene Jobs nicht besetzen. Jeder Jugendliche, der einen Lehrberuf ergreifen will, kann sich den Job derzeit aussuchen. Das war nicht immer so. Darüber spricht niemand. Zum ersten Mal konnten wir die Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit erreichen. Wir haben sie um 50 Prozent reduziert. Das sind 75.000 neue Jobs und 75.000-mal neue Hoffnung. Was uns derzeit mehr antreibt, ist die Tatsache, dass durch die Wirtschaftsprogramme in den USA mehr Unternehmen in den Vereinigten Staaten investieren werden als in Europa.
Die SPÖ kritisiert, dass ÖVP-Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer Anfang der 2000er-Jahre abriet, dass junge Menschen die Lehrerausbildung machen sollen. Heute haben wir einen Lehrermangel. Wie weit kann man in der Politik vorausdenken. Immer nur bis zur nächsten Wahl?
Die Zeit verändert sich gerade um 180 Grad. Ich bin ein Kind der 70er-Jahre. Da war ein Kassenvertrag das begehrteste Ziel für junge Ärzte. Heute werden Ärzte lieber Wahlärzte und wir müssen fördern, dass junge Ärzte überhaupt Kassenverträge wollen. Derzeit haben wir zu wenige Arbeitskräfte. Vor zehn bis 20 Jahren war die wichtigste Aufgabe der Politik, Rahmenbedingungen zu schaffen, dass überhaupt Arbeitsplätze entstehen können. Teilzeitarbeit entstand, weil es einen Überschuss an Arbeitskräften gab. Diese Beispiele zeigen: Die Rezepte und die Schablonen der vergangenen Jahrzehnte sind überholt. Wir müssen uns mit der Frage der Altersentwicklung der Gesellschaft, der Weiterentwicklung der Arbeitskräfte völlig neu auseinandersetzen. Aber nicht mit alten Rezepten wie etwa den marxistischen Anleihen, auf die die SPÖ gerade setzt. Oder indem man um ein Tourismusland wie Österreich eine Mauer rundherum bauen will und verspricht, dass Österreich dadurch sicherer wird. Man muss offen bleiben für neue Entwicklungen. China schwächelt derzeit, aber Indien boomt. Das ergibt neue Dynamiken und wir müssen schauen, dass wir die Wettbewerbsfähigkeit nicht verlieren.
Die Neuwahl-Gerüchte wollen nicht verstummen - auch aus Ihrer Partei werden die Gerüchte gestreut. Sie verneinen stets. Aber wer in der ÖVP hat daran ein Interesse?
Und was sagen die Gerüchte? Wann sollen wir derzeit wählen?
Mit Werner Kogler habe ich klar vereinbart, die Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, um die Probleme zu lösen.
Karl Nehammer über die Koalition
Im März. Wie gesagt, es gibt Befürworter in Ihrer Partei für einen vorgezogenen Wahltermin ...
Wessen Interesse es ist, weiß ich nicht. Mein Interesse ist es nicht. Werner Kogler und ich haben eine sehr tragbare Arbeitsbeziehung. Im Gegensatz zur Erzählung, dass nichts mehr weitergeht, haben wir mit der Mietpreisbremse und nun mit dem letzten Drittel der Kalten Progression das Gegenteil bewiesen. Außerdem haben wir noch viel vor. Wir sind in den Verhandlungen des Finanzausgleichs - da gibt es einen Zukunftsfonds, unter anderem für die Kinderbetreuung, um die Lücken für die bis zu Dreijährigen zu schließen.
Die neuen Umfragen, wonach Babler nicht in das Kanzlerduell kommen wird, spielen keine Rolle?
Nein, wir haben zu viele ernste Themen zu bearbeiten. Wir haben keine Zeit für parteitaktische Spiele. Wir haben die vierte Krise in dieser Legislaturperiode zu bewältigen. Mit Werner Kogler habe ich klar vereinbart, diese Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, um die Probleme zu lösen. Dann können die Menschen erkennen, wer redliche Politik macht und wer nicht. Ich glaube an unser starkes Land und daran, dass wir gemeinsam Krisen überwinden können. Dass die Opposition taktische Spielchen macht, liegt daran, dass sie keine Verantwortung hat und auch keine übernimmt, wenn sie die Chance dazu hätte. Stichwort: Mietpreisbremse.
Gehen wir die Projekte durch: Wird das Erneuerbaren-Wärmegesetz noch kommen?
Wir sind auf einem guten Weg, auch wenn es ein komplexes Thema ist.
Sie haben angekündigt, sämtliche wichtige, offene Posten in der Republik in einem Paket zu präsentieren. Wird das noch im September sein?
Ich gehe davon aus, dass das zeitnah gelöst ist.
Wenn sie die gesunkenen Preise nicht weitergeben, werden wir weiter eingreifen.
Karl Nehammer über Energiekonzerne
Stichwort Mietpreisdeckel. Sie haben die Einführung im Frühjahr verhindert. Jetzt kommt er doch. Haben Sie damit nicht eine Chance vertan, die Inflation zu senken?
Wenn man in die Systeme eingreift, muss man sich sehr genau überlegen, wann man das tut. Wir haben uns in der ersten Phase der Teuerung dazu entschlossen, ausreichend Geld zur Verfügung zu stellen, damit sie die Inflation bewältigen können. Jetzt weiß ich, dass das im Empfinden der Menschen nur sehr bedingt angekommen ist, weil die Preise nach wie vor hoch sind und ich mir nur durch Lohnerhöhungen und Anti-Teuerungs-Pakete mein Leben so leisten kann wie davor. Im besten Fall haben wir die Kaufkraft der Menschen aber sogar erhöht. Das zeigen alle Berechnungen. Aber die Inflation ist an der Zapfsäule und beim Einkauf omnipräsent, deswegen kommt das im Empfinden der Bürger nicht an. In Österreich ist die Inflation deutlich widerspenstiger als in anderen EU-Ländern. Das hängt damit zusammen, dass der Warenkorb anders zusammengesetzt ist als etwa in Deutschland. Ein erfolgreicher Tourismus erhöht unsere Inflation, weil er einen sehr großen Anteil im Warenkorb hat. Wir haben minus vier Prozent bei der Inflation - von elf auf sieben Prozent - seit Jahresanfang erreicht. Der Weg stimmt also. Den Strompreisdeckel haben wir schon eingezogen, der Mietpreisdeckel und der Gebührenstopp kommen jetzt und wir werden die Energiekonzerne weiter unter Beobachtung halten. Wenn sie die gesunkenen Preise nicht weitergeben, werden wir weiter eingreifen.
Wie?
Wir werden die Übergewinnsteuer nochmals erhöhen, wenn die Preise nicht reduziert werden. Auch die E-Control wird genau die Transparenz der Abrechnung und die Kündigungsmöglichkeiten in den Fokus nehmen.
Der Innenminister hat bereits entsprechende Vorkehrungen zur Schleierfahndung an der österreichisch-italienischen Grenze getroffen.
Karl Nehammer über Grenzkontrollen
Die italienische Insel Lampedusa geht mit Flüchtlingen derzeit über. Nützen die Flüchtlinge jetzt noch das Zeitfenster, bis der Tunesien-Flüchtlings-Deal bald umgesetzt wird?
Es ist noch kein Geld nach Tunesien geflossen. Tunesien sieht also noch nicht, dass die EU das Abkommen ernst meint. Wir müssen jetzt rasch Nägel mit Köpfen machen. Dann wird sich auch die Lage verändern. Wir müssen das Abkommen mit proaktiven Gesprächen zum Leben erwecken.
Woran liegt das?
Bei diesen internationalen Abkommen geht es sehr stark um Vertrauen und gegenseitigem Respekt. Beides darf man nicht gefährden. Man darf das Vertrauen in die Unterschrift nicht gefährden und man darf den Menschen nicht Respektlosigkeit zeigen. Das steht jetzt auf der Kippe. Wenn der Deal in die Umsetzung kommt, gibt es gute Chancen, dass sich die Lage stabilisiert.
Wird Österreich Grenzkontrollen einführen zu Italien?
Ja. Der Innenminister hat bereits entsprechende Vorkehrungen zur Schleierfahndung an der österreichisch-italienischen Grenze getroffen.
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