Nach einem halben Jahrhundert haben sich die Kultrocker von KISS Ende 2023 endgültig in die Live-Pension verabschiedet. Rechtzeitig zum Ende eines gewichtigen Kapitels der Rockgeschichte erscheint die profunde Werkschau „50 Jahre KISS“ (Hannibal Verlag), die noch einmal tief in die Seele der Kultband blicken lässt.
Als am 2. Dezember 2023 spätnachts im ehrwürdigen New Yorker Madison Square Garden die letzten Takte von „Rock And Roll All Nite“ verklangen und sich die vier extraterrestrisch anmutenden Gestalten von der Bühne gen Backtstagebereich schleppten, mag möglicherweise ein gewichtiges Kapitel der Musikgeschichte zu Ende gegangen sein. Ziemlich genau 50 Jahre nach der Bandgründung haben die legendären US-Rocker von KISS auf ihrer über viele Jahre andauernden „End Of The Road“-Tour Lebewohl gesagt. Ob das letzte Live-Kapitel von Gene Simmons, Paul Stanley und Co. wirklich geschrieben ist, das bleibt natürlich offen. Wer die Geschäftstüchtigkeit des kantigen Bassisten kennt, weiß, dass das kleinste Funkeln eines Pennys an der nächsten Straßenecke zu einem spontanen Comeback führen kann, denn - die Songs in allen Ehren - KISS waren schon immer mehr Marketing- als Musikprodukt.
50 Jahre in 50 Kapiteln
Das und vieles andere um das Gespann aus New York ist natürlich keine Neuigkeit, aber Neues aus dem Kanon von KISS zu erfahren ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es gibt eine offizielle KISS-Biografie und alle vier Originalmitglieder haben sich selbst in diversen Schriftstücken verewigt, um ihre Erinnerungen an ein kräftiges Stück Rock-Musikhistorie zu bündeln. Der renommierte kanadische Buchautor und Musikjournalist Martin Popoff hat die Verlagsanfrage zum Jubiläumsband „50 Jahre KISS“ gerne angenommen, schließlich hat er Musiker und Wegbegleiter über die letzten 40 Jahre hinweg mehrmals interviewt und getroffen und schüttelt die Geschichten lesbar locker aus dem Ärmel. Für den Jubiläumsband hat er die Historie von KISS in - no na - 50 verschiedene und markante Kapitel unterteilt, die noch einmal einen schönen Querschnitt über das Schaffen der geschminkten Wilden gibt.
Wie es sich für einen großformatigen Band gehört, setzt Popoffs Umsetzung in erster Linie auf wunderschönes und durchaus seltenes Bildmaterial. Backstage-Schminkfotos, Tourpässe, von den Musikern unterschriebene Alben oder bislang noch nicht zwischen zwei Buchdeckel gepresste Live-Fotos - das sind jene Teile des Werkes, an denen sich sogar jahrzehntelange KISS-Fans und Top-Experten noch das eine oder andere unbekannte Schmankerl herausziehen können. Textlich erfährt man in der Karriererückschau natürlich nichts, was man am langen Weg nicht schon mal irgendwo aufgelesen hätte. Das macht aber insofern nichts, als es Popoff trotz seines merkbaren Fantums dankenswerterweise vermeidet, sich demütig vor die hohen Plateaustiefel zu legen, sondern durchaus kritische Worte findet und die doch zahlreichen Misserfolge und falsch gewählten Abzweigungen der Band noch einmal deutlich ins Licht rückt.
Mehr als nur Musik
So wird man während des kurzweiligen Schmökerns noch einmal Zeuge von der austrabenden Egomanie Simmons, von der verqueren Unangepasstheit Ace Frehleys oder dem traurigen, alkohol- und drogendurchtränkten Untergang von Drummer Peter Criss. Man durchlebt leibhaftig die Dürrephase zwischen Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre, als sich KISS in beliebigen Kompositionen und unzureichenden Konzeptwerken versuchten, während der 70er-Jahre-Rock’n’Roll links von Disco und rechts von Heavy Metal überholt wurde. Popoff führt mehrmals klar an, dass viele Simmons- und Stanley-Nummern nicht über den Durchschnitt hinausragen und zahlreiche Alben mit Songfüllern gestopft wurden. Doch KISS waren weniger Musik als Gesamtprodukt. Es ist auch die Geschichte von der ursprünglich von Fans ins Leben gerufenen KISS-Army, von vier geschminkten Wilden, die gegen Eltern und Establishment ankämpften und den Bereich des Marketings im Rock’n’Roll erst richtig salonfähig machten.
Wer wie Gene Simmons dazu in der Lage ist, Luftgitarrensaiten (!) zu monetarisieren, hat zweifellos einiges richtig gemacht, auch wenn man über viele Songs aus der fünfzigjährigen Ära der Band lieber den Mantel des Schweigens breiten würde. Dann gibt es aber auch noch die lichten Momente, die bis in alle Ewigkeit Musikgeschichte schrieben. Das schnörkellose, vorurteilsfreie Debütalbum „Kiss“ aus dem frühen 1974er-Jahr, das bahnbrechende letzte Aufbäumen der alten Rock-Welt mit „Deströyer“ (1976), das fulminante Rock/Metal-Glanzcomeback „Lick It Up“, das der Band trotz des wirren Gitarristen Vinnie Vincent eine zweite Top-Karriere verschaffte. Die Welteroberung mit den beiden ersten „Alive“-Alben, das künstlerisch fulminante Anti-Grunge-Statement „Revenge“ und die - viel zu spät - an ebenjenes Genre angebiederte Flop-Werkschau „Carnival Of Souls“ (1997), von dem sich heute so gut wie jedes KISS-Mitglied (und jeder Fan) mit Abscheu distanziert.
Erwartet das Unerwartete
Und dann gibt es noch die Momente, in denen Popoff auch in einer weitgehend auserzählten Bandgeschichte noch Ecken findet, die bislang zu wenig beleuchtet wurden. Etwa wie es dem jahrelangen Label Casablanca Records in der KISS-Manie ging, wie sehr Paul Stanley in den 80ern den unkonzentrierten und mehr gen Filmproduktionen neigenden Simmons ersetzen und die Band fast im Alleingang am Leben halten musste oder welche Rolle der Entdecker und langjährige Manager Bill Aucoin spielte, obwohl er im Gegensatz zu Branchenkollegen (remember Peter Grant von Led Zeppelin) lieber immer im Hintergrund blieb. „50 Jahre KISS“ ist eine profunde, bildreiche Werkschau im edlen Hardcover, das uns trotz all der Hochs und Tiefs von Simmons, Stanley, Frehley, Criss, Carr, Singer, Thayer, Vincent, Kulick und Co. noch einmal vor Augen führt, welch bahnbrechende Legende wir mit Abschluss des Jahres 2023 endgültig verloren haben. Oder auch nicht. Denn bei KISS galt schon immer mehr als bei allen anderen: erwartet lieber das Unerwartete. Und die Hologramme warten schon ...
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