„Krone“-Interview

Holiday Sidewinder: „Ich liebe es, anders zu sein“

Musik
24.03.2024 09:00

Die Songs von Holiday Sidewinder klingen meist nach leichtfüßigem Beach-Pop, beinhalten aber oft düstere Texte, die tief im Seelenleben der 33-Jährigen graben. Die Australierin gab unlängst ihr Wien-Debüt im Vorprogramm von Sophie Ellis-Bextor und veröffentlicht nun ihr neues Album „The Last Resort“. Genug Gründe, um ihr auf den Zahn zu fühlen.

(Bild: kmm)

Holiday Sidewinder ist alles, nur kein natürlicher Popstar. In ihrer Heimat Australien war sie familiär von Künstlern und Mitarbeitern in der Entertainment-Branche umgeben. Mit bereits 13 gründete sie die feministische Melodic-Pop-Band Bridezilla, die sie nach einigen Touren und Vorschusslorbeeren Jahre später zu Grabe trug. Als Solokünstlerin geht sie musikalisch wesentlich positiver und lebensbejahender ans Werk, verknüpft in ihren Texten aber düstere Geschichten aus dem Privatleben, die in viele Metaphern verpackt sie. Zu Indie für den Mainstream, zu Mainstream für die Indie-Welt. Auf ihrem neuen Album „The Last Resort“ verarbeitet sie ihre Lockdowns in Zypern und Thailand. Ein Gespräch über das Nomadentum, Kanten in der Popwelt und ihr großes Idol Sophie Ellis-Bextor.

„Krone“: Holiday, du warst als Support von Sophie Ellis-Bextor vor wenigen Tagen in WUK das erste Mal live in Wien.
Holiday Sidewinder:
 Ja, was für eine beeindruckende Stadt! Ich mache alles selbst. Ich bin meine eigene One-Woman-Band, weil ich mir Mitmusiker nicht leisten kann. Ich mache das Merchandise, mein Booking und alles sonst. Für die ganze Tour habe ich nur 40 T-Shirts mitgenommen, weil ich immer Angst habe, auf allem sitzen zu bleiben und meinen Keller vollzustopfen. Auch beim Plattenpressen bin ich ziemlich sparsam. Das ist so ein Tick von mir. Bob Nostanovich von Pavement hat meine Platten gepresst und wir haben die Kosten-/Einnahmenteilung auf 50/50 gemacht.

Deine ganze Familie ist in irgendwelchen Kunst- und Musikbereichen unterwegs. Das kann auch ein Vorteil sein, wenn man von klein auf eine gewisse familiäre Toleranz dafür mitbekommt.
Meine Mutter, mein Onkel und mein Großvater sind und waren Musiker. Meine Großmutter hat früher Kostüme am Filmset gemacht, mein Vater ist für das Setdesign im Filmbusiness zuständig. Es ist wirklich jeder irgendwie involviert. Ich hätte Schauspielerin werden sollen, dort wird man definitiv besser bezahlt. (lacht) Das Musikerleben ist sehr unsicher. Sophie ist ein tolles Beispiel. Sie hatte einen großen Hit, dann vergehen fast 25 Jahre und plötzlich geht sie wieder viral und ist so populär wie nie zuvor – aus heiterem Himmel. Andererseits hat man eine treue Fanbase, die einen immer begleitet. Das ist wirklich schön. Wenn man Sicherheiten will, dann muss man reich heiraten, einen Gönner finden oder reich geboren sein. (lacht) Das ist im Musikgeschäft gar nicht mehr so selten, aber deshalb sind auch viele Lieder so leer. Gute Songs entstehen aus Erfahrungen, die nicht so positiv sind. Rich Kids kennen so etwas meistens nicht.

Wie lange kannst du eigentlich alles noch alleine machen?
Gute Frage. Ich hoffe, ich finde es früh genug heraus. Dass ich unser Interview fast vergessen hätte und jetzt mit dem Taxi schnell hierher gerauscht bin ist vielleicht ein Zeichen, dass ich langsam Dinge woanders hin delegieren sollte. (lacht) Ich bin ein ziemlich freiheitsliebender Kontrollfreak und habe die Dinge gerne so, wie ich sie möchte. Für mich geht es immer um die Fans. Sie tun alles für mich und ich versuche alles für sie zu tun. Ich treffe sie gerne auf Tour und rede mit ihnen, weil ich diese Verbindung mag. Damit schafft man sich auch Fans fürs Leben. Ich habe seit 2019 kein Album mehr veröffentlicht und trotzdem kommen viele Leute zu meinen Shows, dafür bin ich sehr dankbar. Ich wollte immer eine Künstlerin sein und keine Fashion-Puppe, die singt.

Kennst du Sophie Ellis-Bextor eigentlich schon länger?
Ich habe sie getroffen, als ich das erste Mal nach London zog. Ihr Ehemann und ich hatten damals denselben Manager und wir haben Musik geschrieben, ich traf sie also wirklich in ihrer Küche. (lacht) Sie war ein Kindheitsidol von mir. Ich habe mir als Achtjährige im Wohnzimmer meiner Eltern auf MTV „Murder On The Dancefloor“ angesehen und mitgetanzt. Es war ziemlich surreal, sie als Erwachsene zu treffen und dann auch noch mit ihr befreundet zu sein. Wenn man den Superstar von der Person trennt. Sie hat mich mittlerweile auf vier Touren mitgenommen und es fühlt sich an, als wären wir eine große Familie.

Sie ist eine unglaublich unproblematische Person. Sie hat viel Klasse, fünf Kinder, ist in ihren 40ern, nicht zu sexy angezogen und immer freundlich, ohne herumzufluchen. Sie ist die perfekte Popkünstlerin für die gesamte Familie und sie ist immer am Boden geblieben. Als es ganz hoch ging war sie genauso nett wie in den Momenten, wo es nicht so gut lief. Manchmal ist es schwer, in diesem Business optimistisch zu bleiben und dann kommt plötzlich Sophie und nimmt mich mit, in den schönsten Venues Europas zu spielen.

Du hast die Band Bridezilla in Australien gegründet, als du 14 Jahre alt warst. Haben diese frühen Erfahrungen dafür gesorgt, dass du heute gerne so unabhängig bist und eigentlich nur dir selbst richtig vertraust?
Als Teenager war mir das noch ziemlich egal. Ich hatte keine Rechnungen zu bezahlen und es gab jeden Abend bei meinen Eltern Essen. Die Plattenfirma gab uns als ziemlich abstrakte Band viel mehr Geld als wir je für das Album gebraucht hätten. Ich hatte irgendwie keine andere Wahl. In Großbritannien hatte ich lange ein großes Management, aber die wussten nicht, was sie mit mir tun sollten. Ich war zwar eine Popkünstlerin, aber auch ziemlich abgedreht. Wo presst man mich also rein?

Manche Songs sind sehr catchy, andere klingen ziemlich abgedreht. Ich hatte immer meine eigenen Vorstellungen. Ich bin mit Britney Spears, Beck und Bob Dylan aufgewachsen. Diesen Eklektizismus habe ich irgendwie in meine Musik mitgetragen. Die Leute wollen dich im Radio haben, aber ich hatte nie Interesse daran so zu klingen, wie Acts, die es schon gibt. Wenn ich versuche normale Musik zu machen, dann klingt sie auch sicher nicht normal. (lacht) Ich funktioniere nur in meiner eigenen Welt.

Hast du die Band 2013 mit 22 Jahren aufgelöst, weil du keine Kompromisse mehr eingehen wolltest?
Das war sicher ein Grund. Jeder weiß, dass Teenage-Mädchen der absolute Albtraum sind. Über die Jahre haben sich unsere Geschmäcker geändert und jeder wollte in eine andere Richtung gehen. Nebenbei war ich auch alleine als DJ unterwegs und habe gesehen, was Popmusik in Menschen auslöst. Bei Bridezilla habe ich ziemlich depressive Musik geschrieben und viele Menschen bei den Konzerten weinen gesehen. Diese Emotionsausladung ist zwar schön, aber ich wollte lieber, dass es den Leuten bei meinem Sound gut geht und sie Freude daran haben.

Also bin ich musikalisch in eine fröhlichere Richtung gegangen, aber die Texte sind noch immer traurig und dunkel – nur trickse ich alle aus, indem die Musik dazu fröhlich ist. Ein gutes Beispiel dafür ist auch „I’m Not In Love“ von 10cc. Der Song klingt romantisch, aber er ist es überhaupt nicht. Das Komponieren in dieser Form ist meine Art der Selbstheilung. Für manche Leute klingt ein Song nach einer tropischen Insel, dabei steht darin vielleicht das Thema Abtreibung.

Die Leute können also dazu tanzen, wenn sie nicht genau zuhören. Sie können aber auch viel tiefer eintauchen?
Können sie, aber die meisten Menschen hören eine flotte Melodie, tanzen und sind glücklich. Das ist für mich auch total okay, denn deshalb mache ich auch Musik.

Sind deine Songs allgemein sehr persönlich und privat, oder ziehst du auch viele Inspirationen aus Beobachtungen?
Das hält sich die Waage. Meist beginnt es mit einer eigenen Erfahrung und dazu kombiniere ich Fantasy-Elemente. Das neue Album „The Last Resort“ habe ich in Zypern und Thailand geschrieben und ich war sehr von den dortigen Sagen und Göttern, aber auch vom fehlenden Tourismus inspiriert, der zu Pandemiezeiten herrschte. Ich bin sehr offen was mich und meine Probleme angeht und muss in Interviews auch immer aufpassen, was ich von mir preisgebe. Mein Leben ist in der Musik versteckt und ich will nicht, dass man alles findet. Die Musik ist wie ein Tagebucheintrag.

Diesen Satz finde ich immer interessant. Die Musik teilt man als Künstler mit Tausenden oder Millionen anderen Menschen, mit einem Tagebucheintrag würde man das aber nie tun …
Das stimmt schon, deshalb gestalte ich die Songs auch so abstrakt, dass man nie genau weiß, was passiert. Mein armer Ehemann kennt natürlich die Hintergründe und ist oft überrascht, wie viel ich darin rauslasse. (lacht) Aber es ist so verschachtelt, dass es keine Nacherzählung ist. Jedes Album ist wie ein Fotoalbum einer Lebensphase. Manchmal schreckt man sich ob seiner eigenen Vergangenheit, aber am Ende soll die akustische Bibliothek so schön und ehrlich wie möglich sein. Ich hatte eine Zeit lang eine ziemlich explizite sexuelle Abrechnung mit meiner Vergangenheit. Heute fühle ich das nicht mehr, aber die Leute wollen das immer noch gerne hören. Es passt aber nicht mehr zu mir. Was passiert, wenn ich diese Songs mit 50 singe? Dieser Gedanke kommt mir oft. Wichtig ist aber, dass ich die Songs immer so meine, wie ich sie singe.

Sophie und ich haben über Carole Kings Song „Where You Lead, I Will Follow“ gesprochen. Sie hat ihn nie live gespielt, denn als er rauskam, kam auch die feministische Bewegung in Fahrt und der Song klang falsch. Dann wurde er durch die „Gilmore Girls“ noch einmal berühmt und hatte plötzlich eine  andere Bedeutung. Es ging um Mutter und Tochter und nicht mehr um Mann und Frau – der Song hatte ein ganz neues Leben. Ich hoffe, dass es zum Beispiel mit meinem Song „Leo“ auch so wird. Es soll nicht mehr so stark um meine Ex-Freunde gehen, sondern darum, dass junge Frauen genauso das Recht haben, sich auszutoben und zu tun, was sie tun wollen. Sie sollen sich nicht bewertet fühlen, nur weil sie sich im sexuellen Sinn wie Männer aufführen.

Sind viele deiner Songs auch ein Kampf gegen das gesellschaftliche Ungleichgewicht? Gegen die permanente Sexualisierung von Frauen?
Ich liebe AC/DC und höre sie immer, bevor ich auf die Bühne gehe. Aber im Song „TNT“ etwa haben sie die Textzeile „Lock Up Your Daughter, Lock Up Your Wife“ - wie sexistisch ist das bitte? Also habe ich mir in „Leo“ den Spaß gemacht, die Zeile „Lock Up Your Husbands And Lock Up Your Sons“ einzubauen. Ich weiß schon, dass es AC/DC nicht so ernst gemeint haben, aber die Botschaft ist trotzdem speziell und ich finde, damit kann man aus weiblicher Perspektive durchaus spielen. Der 60s Garage-Rock war so unglaublich maskulin, bis einst Suzi Quatro mit den Pleasure Seekers ein richtig cooles Gegengewicht bildete. Ich habe sie auch mal persönlich kennengelernt. Sie war ziemlich tough und erst als ich ihr sagte, dass ich Fan sei und viele Platten besitze, taute sie auf. (lacht)

Sie ist einfach echt, dafür liebe ich sie. Sie hat den Weg für selbstständige Frauen im Rock’n’Roll bereitet und ist noch immer da. In der Generation war sowieso irgendwas im Grundwasser. Ich habe mal mit Produzent Mike Chapman gearbeitet. Der ist auch in seinen 70ern, aber so unglaublich cool. Er kleidet sich toll, hat einen guten Witz und ist immer noch neugierig. Du merkst, dass er seinen Beruf und die Musik liebt und das inspiriert mich sehr. Man braucht einfach einen Punk-Spirit, um mit dem richtigen Ethos in dieser Welt zu überleben.

Lebst du nicht eigentlich in Thailand?
Nein, momentan lebe ich in Estland, aber die Zeit in der Pandemie war kompliziert. Mein Mann war in Estland und ich musste dort raus. Ich durfte wegen der Pandemie nicht nach Australien, die US-Visa lief aus und auch in Großbritannien durfte ich nicht ewig bleiben. Wo sollte ich also hin? Ich ging dann nach Zypern. Dort ist es schön, noch günstig und ich war dort einen ganzen Winter lang alleine. Wenn man das Haus verließ, musste man der Polizei schreiben. Dann ging es für den nächsten Lockdown nach Thailand und dort endete ich in einer Strandhütte, die 13 Dollar die Nacht kostete – das war grandios. Es war aber auch sehr mysteriös, denn normal sind dort Abertausende Touristen. Dank der Pandemie war seit zwei Jahren nichts mehr los. Eine echte Geisterstadt. Daraus entstand das Konzept für „The Last Resort“. Es sieht zwar aus wie das Paradies, aber eigentlich ist man mitten in der Dystopie.

Jetzt lebst du aber in Estland?
Ich darf dort noch ein paar Jahre bleiben, aber dann schauen wir mal, wo es hingeht. Ich war auch schon mal in Los Angeles und gesamt sechs Jahre in London. Ich bin ein bisschen seltsam, weil ich das so brauche. Meine Familienmitglieder sind alle wie Gypsys. Meine Großmutter lebte in Australien im Auto, sie schlug einfach irgendwo ihr Zelt auf. Ich bin am glücklichsten, wenn ich auf Tour bin und jeden Tag eine neue Stadt kennenlerne. Mein Name ist wie ein Fluch – ich bin dazu verpflichtet, quasi permanent auf Urlaub zu sein. (lacht)

Heute ist es schwierig, weil mein Mann zwar auch gerne unterwegs ist, aber lieber im Norden. Er ist Australier mit einem russischen Vater, das ist wohl in seinen Genen. Er wäre am liebsten irgendwo in der Antarktis oder dort, wo es kein Licht gibt. Für mich kann es nicht warm genug sein und am liebsten hätte ich 24 Stunden Sonne am Tag. Aber wir schaffen das schon, alles nur eine Sache der Einteilung. Ich bin zur Sommersonnenwende geboren. Summer & Holiday – mein Schicksal wurde schon früh geschrieben.

Noch einmal zum Album – der Titel „The Last Resort“, man kennt ihn eher von Papa Roach, ist der Zeit in Thailand nachempfunden?
Ja, zu einem großen Teil. Ich hatte schon lange viele Songtitel, aber sie waren eher humorig. „The Last Resort“ war der erste Titel, aber auch eine Metapher für mein Privatleben und meine Beziehungen. Ich habe quasi mit dem letzten Ressort gebrochen und bin wieder weitergezogen. Es gibt mehrere tiefe Bedeutungen, aber ich werde nicht näher darauf eingehen. Während der Pandemie sind viele komische Sachen passiert und vielleicht schreibe ich mit 70 einmal meine Memoiren und gehe dann offener damit um. Derzeit ist das aber kein Thema und ich verstecke die Themen lieber hinter der Musik.

Wunderst du dich aus heutiger Perspektive manchmal, welche Inhalte du früher in Songs gepackt hast?
Nicht so wirklich, denn das Songschreiben ist für mich natürlich. Ein normaler Teil meines Lebens, weil ich das schon familiär so gelernt habe. Ich habe meinen ersten Song schon mit drei geschrieben. Problematischer wurde es erst, als andere Menschen involviert waren. Früher hatte ich alle paar Monate einen neuen Freund und irgendwann wurde mir bewusst, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Ich glaube, mein nächstes Album wird ein Akustikalbum sein, das ich am Strand in einer Hütte spielen kann. Ich habe immer die romantische Vorstellung davon, an schönen Urlaubsorten oder in Surfer-Bars zu spielen. Tagsüber arbeite ich in Hotels, damit ich bezahlt werde und mir auch keine Sorgen um die Kosten für eine Tour machen müsste. Ich weiß, das klingt ziemlich seltsam und nicht unbedingt nach Karriere, aber ich wäre damit ganz happy.

Mit Sophie in ganz Europa zu touren ist natürlich viel besser, aber manchmal hätte ich es einfach gerne extrem gemütlich. Ich baue mir lieber die Musik um mein Wunschleben auf, als dass ich mein Leben um die Musik kreisen lasse. Mit Bridezilla waren wir drei Jahre lang fast jeden Tag woanders. Das war furchtbar. 13 Stunden im klapprigen Van und dann ins Hostel mit krachendem Bett. Da beschloss ich, dass ich als Erwachsene lieber in einer Hotel-Lobby spielen würde. So wie es jetzt ist, ist es natürlich toll. Ich bin einfach besessen davon, anders zu sein. Das verwirrt die Musikindustrie, aber ich mag es.

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