Das wochenlange Warten und Zittern hat endlich ein Ende – Taylor Swifts elftes Studioalbum „The Tortured Poets Department“ erweist sich als 31 Songs starkes Doppelwerk und mäandert musikalisch durch ihre gesamte Karriere, mit Fokus auf die jüngere Vergangenheit. Die Songs sind seelenvoll, durchdacht und hervorragend produziert. Die großen Einzelhits mögen fehlen, aber Swift sitzt nicht zu Unrecht am globalen Pop-Thron.
Sollte sich noch jemand gefragt haben, ob Megastar Taylor Swift mittlerweile einen gottgleichen Madonna-Status eingenommen hat – diese Frage kann seit einigen Stunden mit „ja“ beantwortet werden. Um den nicht enden wollenden Schwund an jungen Menschen in religiösen Gefilden entgegenzukommen, arbeiten Institutionen mittlerweile mit allen Tricks. So hat eine evangelische Kirche in Heidelberg angekündigt, einen Gottesdienst mit Musik von Swift abzuhalten. Der erste, anberaumt auf 423 Plätze bei freiem Eintritt, war so schnell ausreserviert, dass der hiesige Pfarrer kurz darauf noch einen zweiten nachlegt. „Ich bin ziemlich geflasht und überrascht“, wurde Pater Vincenzo Petracca im „Spiegel“ zitiert, „mit dieser Resonanz hätte ich nicht gerechnet.“ Zur förmlichen Heiligsprechung der 34-Jährigen ist es gewiss nicht mehr weit.
Einen Unterschied machen
Taylor Swift ist das perfekte Gegenbeispiel einer Zeit, in der Fachexperten den schleichenden Tod von Superstars herbei prophezeien. Ihre „Eras“-Tour ist die erfolgreichste der Weltgeschichte. Die Tickets für die drei Österreich-Konzerte im Wiener Happel-Stadion von 8. bis 10. August waren in kürzester Zeit ausverkauft. In Südostasien gab es ein länderübergreifendes, politisches Gerangel um die Vorrechte des Kartenverkaufs und in Australien soll der Verkaufsstart für ihre Konzerte sogar die Klimabilanz nachhaltig verändert haben. Das sind freilich nur eine Hand voll jener Superlative, die Swift nicht zur zum größten Popstar der Gegenwart gemacht haben, sondern sie in puncto Hype längst in Beatles-Sphären katapultierte. Jeder leicht gehauchte Satz der Künstlerin sorgt für globale Schnappatmung und als sie ihren neuen Herzensjungen Travis Kelce am Feld nach dem Superbowl-Finale herzen wollte, musste eine ganze Heerschar an Polizisten und Securitys dafür abgestellt werden.
Jeder Schritt von Taylor Swift ist öffentlich zugänglich. Ihre privaten Ansichten und Aktionen mutieren mitunter zu weltpolitischen und wirtschaftlichen Beben. Ihr Wort hat bei Abermillionen ihrer treuen „Swifties“ jenes Gewicht, das Staatenlenker kraft ihres Amtes gerne hätten, aber längst nicht mehr haben. Was bei all der Euphorie um den Megastar seit geraumer Zeit in den Hintergrund rückt, ist die pure Grundlage ihrer Übermenschlichkeit: die Musik. Ihre Wirksamkeit sorgt dafür, dass sie längst verloren geglaubte Traditionen im Mainstream am Leben erhält. Taylor Swift kann es sich etwa noch immer erlauben, neue Musik bis zum Veröffentlichungszeitpunkt zurückzuhalten und ihren Hype nicht mit Single-Auskoppelungen und Social-Media-Kampagnen befeuern zu müssen. Beharrlich setzt die Vielarbeiterin in Zeiten von Spotify-Playlists, Single-Auskoppelungen und kurzlebigen TikTok-Klangsternen auf das raumfüllende Albumformat und breitet ihre Geschichten in aller Ruhe und Gediegenheit aus. Nach 30 Sekunden bei einem Song auf den Punkt kommen, damit der Hörer nicht weiterskippt? Auf solche Spielereien lässt sich Swift nicht ein.
Schwäche als Stärke
Swifts größte Schwäche im Leben ist ihre größte Stärke in der Musik: die Verletzlichkeit und das alltägliche Drama. Über all die Verflossenen der Amerikanerin könnte man Enzyklopädien schreiben, jedes unglücklich beendete Kapitel in ihrem nicht enden wollenden Gefühlschaos wird in Songs verarbeitet. Folgerichtig kündigte sie ihr nun vorliegendes elftes Studiowerk auf Instagram mit folgenden Worten an: „Diese Autorin ist der festen Überzeugung, dass unsere Tränen in Form von Tinte auf einem Blatt heilig werden. Wenn wir unsere traurigste Geschichte ausgesprochen haben, können wir uns von ihr befreien. Und dann bleibt nur noch die gequälte Poesie zurück.“ Insofern ist „The Tortured Poets Department“ eine weitere, über einen Zeitraum von gut zwei Jahren verfasste Abhandlung mit erlebten Tragödien, aus der die Künstlerin respektive Poetin gestärkt hervorkommt.
Der stilistische Sprung vom Country-Teeniestar über den Pop-Mainstream, hin zur folkloristischen Ruhe und später mit Kopfsprung in den Indie-Pop tauchend ist in dieser Form einzigartig. Für die erst 34-jährige Swift, die in der Dokumentation „Miss Americana“ durchaus kritisch auf die eigene Zukunft blickt, weil der Wert von Frauen im Unterhaltungsgeschäft ab 35 rapide sinken würde, macht es die selbst zur Schau gestellte Bandbreite an Klanguniversen nicht leichter, schließlich pendelt das Damoklesschwert „musikalische Redundanz“ mit jedem neu veröffentlichten Album bedrohlicher über ihrem milliardenschweren Haupt. Auf „The Tortured Poets Department“, dem ersten Album seit 2010, das aus mehr als einem Wort im Titel besteht, kratzt Taylor die Kurve noch einmal erfolgreich mit einer Klang-Mischkulanz aus ihrer jüngeren Vergangenheit. Partiell findet man den gemütlichen Waldschraten-Touch von „Folklore“, das Indie-Hit-Stakkato von „Midnights“ nimmt einen gewichtigen Teil ein, wie auch der Bubblegum-Pop der Ära „1989“ nicht völlig außen vor gelassen wird.
Immanenter Seelenschmerz
Die Songs sind eine Nabelschau der psychischen Befindlichkeiten einer weltöffentlichen Person, die im Privaten gerne einfach nur romantische Zweisamkeit vorm Kaminfeuer genießen würde. Doch das Leben ist keine Soap-Opera-Dauerschleife und der Seelenschmerz immanent. Interessant ist dabei, mit wie viel kompositorischer Intelligenz Swift und ihr Team ans Werk gehen. Etwa beim Album-Highlight „So Long, London“, eine bittersüße Abhandlung über Swifts sechsjährige, aber unglücklich geendete Beziehung mit Joe Alwyn, die sich von einem sanften Beat hin Richtung Höhepunkt zu steigern versucht, dann aber stets kurz davor abbricht, um im Nebulösen zu bleiben. Kein Happy End eben – weder in der Beziehung, noch in der Eingängigkeit des Refrains. Zu zweifelhafter kommt Alwyn – natürlich ungenannt – auch in Tracks wie „The Smallest Man Who Ever Lived“.
In den Texten verwebt Swift genüsslich aufgekommene Gerüchte, spielt mit den eigenen Unzulänglichkeiten und geht im Opener „Fortnight“ mit Buddy und Superstar Post Malone selbstkritisch über persönliche Alkoholausfälle und das emotionale Eingesperrt sein ein. Den Hauptteil der Songs hat Swift wieder mit ihrem Haus- und Hofproduzenten Jack Antonoff gefertigt, für die ruhigeren Momente dürfte wieder The Nationals Filigrantechniker Aaron Dessner verantwortlich zeichnen. Für Swift selbst gilt „The Tortured Poets Department“ als Rettungsanker, der sie daran erinnert hat, warum Songwriting für sie so wichtig ist. Und fürwahr – wer im virtuellen wie auch realen Sodom & Gomorrha der Öffentlichkeitshölle lebt, der benötigt seine kreativen Rückzugsräume mit besonderer Prägnanz. Wie jedes ernstzunehmende Breakup-Album besteht auch dieses aus zentnerschwerer Traurigkeit, der Hoffnung auf einen Neustart und einer Denkschrift über die fünf immanenten Emotionen, die mit Trennungen einhergehen: Leugnen, Gefühlsausbrüche, Verhandeln, Eingestehen, Akzeptieren.
Alien der Weltöffentlichkeit
Die klangliche Bandbreite ist beeindruckend. „But Daddy I Love Him“ flirtet mit dem Country-Pop ihrer frühen Tage, „Down Bad“ erweist sich als herzzerreißende Ballade, während „I Can Do It With A Broken Heart“ samt metaphorisch ausgestrecktem Mittelfinger wieder den Schritt auf die Mainstream-Pop-Tanzfläche wagt. Stimmlich passt sich Swift der jeweiligen Grundaussage an, zwischen Glanzproduktion und wabernden Synthie-Flächen bleibt auch Raum für die Westerngitarre und Selbstermächtigungs-Pop. Auf „The Tortured Poets Department“ verarbeitet Swift nicht nur die letzten Beziehungen und Geplänkel, um einen x-ten Neustart in ein hoffentlich glückliches und beständiges Leben zu schaffen, sie setzt sich auch so klar wie nie zuvor mit ihrer Rolle als „Alien“ in der Weltöffentlichkeit auseinander – wenn auch etwas subtil und gerne versteckt. Passiert ist in den letzten Jahren so viel, dass Swift – am Release-Tag – mit einem Doppelalbum, also 31 Songs überraschte. Das trübe Wochenendwetter lädt zum Glück dazu ein, sich intensiv damit auseinander zu setzen – selbst Wettergott Petrus richtet sich nach den Wünschen der Königin.
Live in Wien
Von 8. bis 10. August spielt Taylor Swift im Zuge ihrer „Eras“-Tour erstmals für drei Konzerte im Wiener Ernst-Happel-Stadion. Alle Konzerte sind seit Monaten bis auf den letzten Platz ausverkauft.
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