Filzmaier analysiert

In welchem Fall wir heute kein Wahlergebnis haben

Nationalratswahl
29.09.2024 11:20

Heute ist Nationalratswahl. Um 17 Uhr werden wir wissen, wie diese ausgeht. Nur falls es ganz knapp werden sollte, müssen wir bis zur letzten ausgezählten Stimme warten. Doch wie ist das mit den Hochrechnungen, Wahlkartenwählern und zahllosen Umfragen genau?

1) Man sollte meinen, dass ein Wahlergebnis – vorgezogene Neuwahlen ausgenommen – fünf Jahre gilt und wir also am heutigen Abend einfach fünf Stunden länger auf die Ergebnisse warten könnten. Doch gibt es die zutiefst menschliche Sehnsucht nach einer Kristallkugel, um alles vorher zu wissen. Die Hochrechnungen der Fernsehsender erfüllen uns diesen Wunsch und kommen dabei ohne Umfragen aus.

2) Das läuft so: Eine Menge Wahllokale schließen früher und haben ihre Stimmenzählung bald abgeschlossen. Diese Teilergebnisse werden wenige Sekunden nach 17 Uhr vom Innenministerium als oberster Wahlbehörde den Hochrechnern übermittelt. Daraus lässt sich das wahrscheinliche Gesamtergebnis errechnen. Was freilich eine große Kunst ist, weil der bereits ausgezählte ländliche Raum anders wählt als die großen Städte.

3) Trotzdem wird die erste Hochrechnung als Unsicherheitsfaktor noch eine größere Schwankungsbreite haben. Denn die Wiener Wahllokale schließen als letzte. Also fehlen jedwede Teilergebnisse aus der Bundeshauptstadt, welche zudem mit rund 1,1 Millionen Wahlberechtigten nach Niederösterreich die zweitgrößte Wählerschaft hat. Erst wenn um rund 18 Uhr – vielleicht ein bisschen früher oder später – viele Wiener Wahlsprengel ausgezählt sind, lässt sich das Endresultat besser abschätzen.

Peter Filzmaier, Professor für Politikwissenschaft an der Universität für Weiterbildung Krems und der Karl-Franzens-Universität Graz, analysiert für die „Krone“. (Bild: Sepp Pail)
Peter Filzmaier, Professor für Politikwissenschaft an der Universität für Weiterbildung Krems und der Karl-Franzens-Universität Graz, analysiert für die „Krone“.

4) Alle Umfragen der letzten Wochen und Monate waren jedoch selbst bei bestmöglicher Durchführung bloß Momentaufnahmen mit einer erheblichen Unschärfe. Sich erst wenige Tage vor der Wahl oder gar heute entscheidende Wähler können sie selbst bei seriöser und bestmöglicher Durchführung naturgemäß nicht berücksichtigen. Daher sind Überraschungen am Wahlsonntag jederzeit möglich.

5) Beeinflussen Umfragen das Wahlverhalten? Jein. Einerseits springen Menschen gerne als Mitläufereffekt auf den Zug des vermeintlichen Siegers auf. Andererseits gibt es Solidarisierungs- sowie sogar Mitleidseffekte mit zurückliegenden Parteien. Das widerspricht sich, und demzufolge kann nicht beides geschehen. Doch profitierten zweifellos Sebastian Kurz und seine ÖVP 2017 und 2019 von einer Positivstimmung, welche zusätzliche Anhänger anzog. Umgekehrt siegte 2006 die SPÖ überraschenderweise nach dem BAWAG-ÖGB-Skandal, weil sich ihre potenziellen Wähler mit dem ansonsten wenig strahlenden Spitzenkandidaten Alfred Gusenbauer solidarisierten.

6) Nachgewiesen ist am ehesten der „Fallbeil-Effekt“. Umfragemäßig hoffnungslos weit unter der Mindesthürde von vier Prozent liegende Parteien werden oft nicht gewählt, um keine verlorene Stimme abzugeben. Deshalb wollten alle anderen Parteien zuletzt den Eindruck erwecken, dass BIER und KPÖ sowie der Rest der Kleinstparteien ohnehin keine Chance hätten.

7) Die Forschung zu den Wahlmotiven wiederum beruht auf brandaktuellen Umfragen. Wobei es um Trends für Analysen geht. Während das Wahlergebnis punktgenau sein muss, sind kleinere Unschärfen hier ein geringeres Problem. War etwa für 30 Prozent der Wählerschaft von Partei A deren Spitzenkandidat das zentrale Wahlmotiv und bei Partei B sind es unter zehn Prozent, so ist die analytische Schlussfolgerung klar. Auch ein oder zwei Prozentpunkte mehr würden nichts daran ändern, dass der Frontmann von B vergleichsweise wenig mobilisieren konnte.

8) Die meistens in der „ZIB 2“ präsentierten Wählerstromanalysen haben übrigens nichts mit Umfragen zu tun, sondern sind eine Wahrscheinlichkeitsrechnung – das mathematische Verfahren nennt sich „multiple Regression“ – anhand aller Ergebnisse in jedem Wahlsprengel von 2019 und 2024. Nur theoretisch könnte man herumfragen, wen jemand diesmal und beim letzten Mal gewählt haben. Doch was vor fünf Jahren war, das wissen viele nicht mehr.

9) In den am Wahlabend präsentierten Ergebnissen ist bereits eine Wahlkartenprognose enthalten. Das ist diesmal leichter als bisher, weil die Briefwahlstimmen spätestens am Wahltag bei der zuständigen Bezirkswahlbehörde einlangen müssen. Sie werden also mitgezählt, während in der Frühzeit der Briefwahl ein sonntägliches Absenden bis 17 Uhr und Einlangen somit erst am Montag möglich war.

10) Es gibt jedoch ein Schreckensszenario aller Hochrechner und sonstigen Wahlforscher. Ein kleiner Teil der Wahlkartenwähler stimmt altmodisch ab. Nicht auf dem Postweg, sondern durch Abgabe der Karte in irgendeinem Wahllokal in Österreich außerhalb des eigenen Wohnbezirks. Diese Stimmen werden erst ab Montag ausgezählt. Normalerweise ändert sich dadurch nichts mehr. Was aber passiert, wenn es im Rennen um den ersten Platz, bei Koalitionsmehrheiten oder für den Parlamentseinzug einer Partei ganz knapp werden sollte? Dann würden wir heute nur „Nix ist fix!“ wissen.

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