Europa ist mehr denn je von Pulverfässern umgeben. Krieg in der Ukraine, Krieg im Gazastreifen, der Libanon in der Abwärtsspirale. Einer, der sich mit solchen Situationen auskennt, ist der Grazer WHO-Krisenmanager Gerald Rockenschaub, der seit Jahrzehnten in den Kriegsgebieten dieser Welt tätig ist.
In seinen 20 Jahren bei der Weltgesundheitsorganisation war der gebürtige Brucker zuletzt als Direktor für gesundheitliche Notlagen in der WHO-Europa-Region, zu der auch Israel zählt, gefragt. Im Vorjahr ist er am Papier in den Ruhestand getreten und hat sich nach Stationen in den USA, Äthiopien, dem Kosovo, Israel oder Albanien in Graz niedergelassen. Im Auftrag der WHO ist er ungeachtet dessen erneut in den Nahen Osten gereist, wo er sieben Jahre lang das Büro in den besetzten palästinensischen Gebieten geleitet hatte.
Auch in der Pension monatelang in Nahost und Ukraine
Erst Ende September ist Rockenschaub von seinem sechsmonatigen Aufenthalt in Jerusalem und Amman zurückgekehrt, wo er Möglichkeiten für humanitäre Hilfe und Wiederaufbau im zerbombten Gazastreifen auslotete. Kommende Woche begibt sich der 66-Jährige in die kriegsgeplagte Ukraine. Dazwischen nahm er den alle zwei Jahre vergebenen Bruno-Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte entgegen.
„Krone“: Welche Eindrücke haben Sie bei Ihrem jüngsten längeren Aufenthalt im Nahen Osten gewonnen? Kann man die aktuelle Lage mit Ihrer Zeit als WHO-Büroleiter bis 2021 überhaupt noch vergleichen?
Gerald Rockenschaub: Es ist eine komplett neue Dimension gegenüber dem Zeitraum 2014 bis 2021. Damals konnte ich noch relativ oft in den Gazastreifen reisen. Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober des Vorjahres hat dann alles verändert und war für die Israelis bzw. die jüdische Gemeinschaft allgemein ein einschneidendes Erlebnis. Zuvor hat man ihnen die Illusion verkauft, dass man den Palästinenserkonflikt durch Ignorieren irgendwie managen könne, nun ist die Sicherheitsblase geplatzt.
Sie waren beruflich in unzähligen Kriegs- und Krisengebieten unterwegs, von Afghanistan über Äthiopien bis Tschetschenien. Ist der gegenwärtige Konflikt im Nahen Osten der dramatischste, den Sie bisher erlebt haben?
Ja. Im Gazastreifen gibt es nahezu kein Krankenhaus, das nicht Schaden genommen hätte. Schulen, Wasserversorgung, Abwassereinrichtungen, zivile Infrastruktur sind großflächig zerstört. Dieses Ausmaß haben wir sonst kaum irgendwo gesehen.
Welche langfristigen Folgen befürchten Sie für die Region?
Die Zerstörung der Infrastruktur und der Lebensgrundlagen hat das Potenzial, die jungen Leute weiter in den Extremismus zu treiben. Die Menschen sehen dann oft einfach keine andere Wahl, wenn man ihnen beispielsweise keine Bildungsperspektiven bietet. In der westlichen Berichterstattung ist das humanitäre Leid oft unterrepräsentiert. Auch wenn das Trauma der Israelis unbestritten ist: Spitäler bombardieren und Schulen zerstören, Infrastruktur dem Erdboden gleichmachen, das kann’s auch nicht sein.
Was kann die internationale Politik tun, um dem entgegenzuwirken?
Es braucht ein massives Umdenken, das ist momentan nicht wirklich sichtbar. Auch die USA haben aufgrund der relativ einseitigen Unterstützung Israels an Glaubwürdigkeit verloren, die UNO hat man leider auch so unterminiert, dass sämtliche Friedensappelle verhallt sind. Ich hoffe, dass eine mögliche US-Präsidentin Kamala Harris eine etwas effektivere Rolle spielen kann.
Muss sich Europa stärker einbringen?
In der EU ist es schwierig, weil die einzelnen Staaten ganz unterschiedliche Positionen vertreten und bezüglich Nahost nicht mit einer Zunge sprechen. Ich glaube eher, dass die arabischen Länder mehr Gewicht bekommen könnten. Auch eine aufgewertete UNO könnte die Lücke füllen, aber dazu braucht es den politischen Willen auf beiden Seiten – bei den Palästinensern und den Israelis. Vor allem in Israel sehe ich derzeit kaum Anzeichen dafür.
Sie haben bei Ihrer Rede zur Verleihung des Kreisky-Preises in der Vorwoche davon gesprochen, dass die jüdische Community ein „kollektives Trauma“ erlitten habe. Haben Sie den Eindruck, dass die Bewältigung ein Jahr nach der Katastrophe vom 7. Oktober in eine richtige Richtung geht, oder verhindert das der anhaltende Krisenmodus?
Israel ist eine gespaltene Gesellschaft. Der konservative Kern will die Palästinenser komplett aus der Region eliminieren, progressivere Kräfte haben im Moment nicht den notwendigen politischen Einfluss. Anfangs sind ja auch diese eine harte Linie gegenüber den Palästinensern gefahren. Nach einem Jahr Krieg finden diese Kräfte langsam wieder zu sich.
Gibt es derzeit überhaupt einen Ausweg oder ist ein solcher aufgrund des enormen Blutvergießens weiter entfernt als je zuvor?
Die Zeit heilt alle Wunden – aber es wird sehr viel Zeit notwendig sein. Auf beiden Seiten wäre eine politische Leitfigur notwendig, die irgendwie kompromissfähig wäre. In Israel sehe ich so jemanden im Augenblick nicht. Auf palästinensischer Seite könnte das unter Umständen Mustafa Barghuthi sein, der als Arzt und Bürgerrechtler durchaus eloquent auftritt und auch international präsent ist.
Sie sind seit 2004 bei der WHO. Hat es in dieser Zeit auch nur annähernd eine solche Häufung von Krisenherden in und um Europa gegeben, wie das derzeit der Fall ist?
Nein. Die Konflikte im Nahen Osten haben die Sprengkraft, sich zu einer globalen Krise zu entwickeln. Wenn sich die Region weiter destabilisiert und der Iran in den Konflikt einsteigt bzw. die USA auf der Seite Israels, könnte daraus eine globale Auseinandersetzung werden. Das ist aber auch in der Ukraine der Fall, das darf man nicht vergessen. Als Europäer ist uns der Ukraine-Konflikt vielleicht etwas näher, aber in den Medien hat nach dem 7. Oktober eine Verschiebung in Richtung Nahost stattgefunden. Auch die katastrophale Lage in Syrien, im Jemen oder in Afghanistan findet im Vergleich zur Eskalation im Nahen Osten wenig Beachtung. Das wirkt sich auch auf die Verfügbarkeit von humanitären Mitteln und Hilfen aus.
Dr. Gerald Rockenschaub wurde 1958 in Bruck an der Mur geboren. Nach einem Medizinstudium an der Uni Graz war er zunächst im Bereich Chirurgie und Notfallmedizin am LKH Bruck tätig. An der Boston University erwarb er einen Master in Public Health mit dem Schwerpunkt Gesundheitsmanagement. In den 1990er-Jahren betreute er erste Hilfsprojekte in Äthiopien, Eritrea und dem Kosovo, 2004 heuerte er bei der WHO an. Dort war er zunächst Regionalberater und Programm-Manager, 2014 übernahm er die Leitung des WHO-Büros für das Westjordanland bzw. den Gazastreifen. Über Albanien führte ihn sein Weg im November 2021 nach Kopenhagen, wo er zwei Jahre lang WHO-Direktor für gesundheitliche Notlagen in der Europa-Region war. Seit seiner Pensionierung im vergangenen Herbst ist Rockenschaub auf Konsulentenbasis weiterhin für die WHO tätig, aktuell etwa in Israel, Jordanien und der Ukraine.
Am Freitag wurde der Friedensnobelpreis an die japanische Anti-Atomwaffen-Organisation Nihon Hidankyo vergeben. Wer wäre für Sie ein würdiger Kandidat?
Ich würde wohl eine humanitäre Hilfsorganisation damit auszeichnen – vor allem in Hinblick auf den Gaza-Konflikt. Mehr als 300 Helfer sind bisher im Gazastreifen ums Leben gekommen, das ist ein enorm hoher Blutzoll.
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