Flügelkämpfe und Richtungsstreits gehören seit jeher zum Wesen der österreichischen Sozialdemokratie. Ihr Gründungsvater war hingegen die größte Integrationsfigur in der Geschichte der SPÖ: der Arzt und Sozialreformer Victor Adler.
Heftige Diskussionen darüber, welche Richtung man einschlagen müsse, öffentliche Fragestellungen, wofür man eigentlich steht und wer die Führung übernehmen soll – all diese Auseinandersetzungen angesichts einer unsicheren Zukunft, die die Umwälzung in der Arbeitswelt, in der Gesellschaft und im demokratischen Prozess bereithält: die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert. Erbitterte Flügelkämpfe und Richtungsstreits in der Partei gehörten aber schon zu Beginn der österreichischen Sozialdemokratie dazu. Aus dieser Reibung hat sie allerdings oft auch die nötige Schubkraft für große Veränderungen bezogen.
Diskussionen schon bei der Gründung der Partei
Der Gründungskern der SPÖ liegt in den Arbeiterbildungsvereinen, sie waren der politische Organisationszweig der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. 1868 schloss sich der Wiener Arbeiterbildungsverein der Ersten Internationalen an. Gleich zu Beginn diskutierte die österreichische Sozialdemokratie über ihre künftige Richtung: Sollte sich die Arbeiterbewegung als Teil der liberalen Bewegung verstehen? Oder lieber an die bürgerlich-demokratische Bewegung andocken? Oder wäre es besser, die marxistische Grundlage deutlicher herausstreichen und von Anfang an selbstständig zu handeln? Beim Gründungsparteitag der österreichischen Sozialdemokratie 1874 in Neudörfl konnte man die ideologischen Gegensätze jedenfalls nur notdürftig überbrücken.
Weil eine einigende Kraft fehlte, fiel die junge Bewegung in eine Krise. Flügelkämpfe brachen aus, man konnte die Massen der Industriearbeiter nicht erreichen, geschweige denn ausreichend gut organisieren. Die Erfolge blieben aus und radikale Kräfte machten sich breit. Anarchisten, die politische Arbeit innerhalb des bestehenden politischen Systems als sinnlos ablehnten, gewannen an Einfluss und warfen die organisierte Arbeiterbewegung zurück. Nach mehreren Attentaten auf Unternehmer intensivierte der Staat die polizeiliche Verfolgung der Sozialisten. Nur wenige Jahre nach ihrem Gründungsparteitag steckten die österreichischen Sozialdemokraten in einer veritablen Krise.
Ein Armenarzt einigte die Fraktionen
Den Turnaround schaffte schließlich der in Prag geborene, aus dem Bildungsbürgertum stammende Armen- und Nervenarzt Victor Adler. Als sich Adler der Sozialdemokratie zuwandte, gewann die Bewegung nicht nur einen begabten Organisator hinzu, sondern vor allem auch einen Mann, dessen große integrative Kraft viele Gegensätze in der Partei abmilderte und der alle Fraktionen auf ein gemeinsames Ziel einschwor – die politische Organisation der arbeitenden Massen. Auf dem berühmten Hainfelder Parteitag von 1888 schaffte Victor Adler dann die Parteieinigung. „Gemäßigte“ und „Radikale“ einigten sich unter seiner Führung auf einen historischen Kompromiss.
Die Sozialdemokratie würde sich künftig einer radikalen Sprache bedienen, dafür aber eine pragmatische, berechenbare und auf die Durchsetzung konkreter Forderungen bezogene Politik machen: Erlangung des allgemeinen Wahlrechts, Kampf um den Achtstundenarbeitstag, Anhebung der Löhne, Aufhebung der Kinderarbeit, Verbesserung der Wohnsituation, Zugang zu Bildung.
Die Richtungsstreitigkeiten gingen aber auch nach dem erfolgreichen Hainfelder Parteitag unter Victor Adler weiter, ebenso die Vorwürfe an den jeweils anderen Flügel. Dem Wiener Flügel der Partei warf man vor, Vertreter einer „Arbeiteraristokratie“ zu sein, denn in der Residenzstadt gab es neben den zahlreichen schlecht bezahlten ungelernten Arbeitern – etwa den aus Böhmen zugewanderten Ziegelarbeitern am Wienerberg – viele gut entlohnte, gebildete Facharbeiter wie etwa Buchdrucker oder Setzer. Diese warfen wiederum den Parteileuten in den Kronländern vor, den übernationalen Parlamentsclub durch zu lautes Rufen nach Selbstständigkeit zu schwächen.
Die böhmischen Sozialdemokraten beklagten sich, dass die deutschsprachigen Parteimitglieder zu wenig für die tschechischsprachigen Arbeiter täten. Dazu kamen die Differenzen, die sich aus der Vielschichtigkeit der Partei ergaben, denn ihr gehörten Arbeiter wie Intellektuelle an, Besitzlose wie Mitglieder des Großbürgertums, Vertreter der Jugend wie honorige Kämpfer der ersten Stunde, Männer wie Frauen.
Für den Erfolg brauchte es die „Radikalen“ und die „Gemäßigten“
Victor Adlers große Leistung war es, all diese verschiedenen Facetten, Ansichten und Erwartungen kraft seiner großen verbindenden Persönlichkeit in einer Partei zu vereinigen. Adler wusste, dass er sowohl den „radikalen“ wie den „gemäßigten“ Flügel – wir würden heute vom „linken“ und „rechten“ Parteiflügel sprechen – brauchte, um die Forderungen der Sozialdemokratie umzusetzen, vor allem, um das Industrieproletariat in eine bessere Zukunft zu führen.
Es war ein harter Weg, denn die Bewegung, die er anführte, musste sich ihren Platz im politischen System erst erkämpfen. Es gab weder Parteienförderung noch lukrative Posten zu verteilen, die einzige Währung der Sozialdemokratie war ihre Glaubwürdigkeit und das Vertrauen, das ihre Anhänger und Unterstützer in sie hatten. All das vor dem Hintergrund der zunehmenden politischen Krise des ausklingenden habsburgischen Vielvölkerstaates am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Victor Adler starb 65-jährig am 11. November 1918. Die Ausrufung der Republik erlebte er noch, die Flügelkämpfe vererbte er an seine Nachfolger.
Warum beschäftigt sich niemand mit Victor Adler?
Die mangelnde Beschäftigung mit Victor Adler, der zu den prägenden Persönlichkeiten der österreichischen Geschichte gehört, ist heute auffallend. Eine moderne wissenschaftliche Biografie ist seit langem ausständig. Das Adler-Archiv im Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, eine der wertvollsten Quellen zur österreichischen Geschichte, haben die meisten SPÖ-Funktionäre nie betreten. Das ist schade, denn gerade angesichts der künftigen Herausforderungen bietet Victor Adlers Lebensgeschichte und sein unermüdliches Engagement vor dem Hintergrund einer sich rasant ändernden Welt vielfältige Inspiration.
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