Es ging alles sehr schnell: Ex-Bundeskanzler Karl Nehammer brach die Koalitionsverhandlungen ab, trat zurück. Der neue ÖVP-Chef Christian Stocker verhandelt nun mit Herbert Kickl. Wie er seinen Umfaller erklärt.
„Krone“: Herr Stocker, Sie sind 65 Jahre alt, haben eine erfolgreiche Anwaltskanzlei, die Ihr Sohn übernehmen wird. Sie könnten die kommenden Jahre mit Golfspielen verbringen. Warum tun Sie sich das an?
Christian Stocker: Es ist tatsächlich so, dass ich es mir leichter machen hätte können. Es geht aber um das Land und nicht um mich. Ich bin wirtschaftlich und persönlich unabhängig. Ich muss niemandem gefallen und muss auch nichts mehr werden. In der Situation, in der sich Österreich befindet, glaube ich, dass es richtig ist, die Koalitionsgespräche zu führen. Das Land braucht dringend eine Regierung.
Es gibt neben Unabhängigkeit auch eine persönliche Reputation, die bis dato sehr hoch und nun massiv beschädigt ist. Ist Ihnen das nichts wert?
Mir ist das gar nicht leichtgefallen. Es ist sicher so, dass meine Reputation gelitten hat. Damit ist auch die Beschädigung der Glaubwürdigkeit in der Politik verbunden. Ja, es ist auch richtig: Ich habe immer gesagt, dass ich mit Herbert Kickl nicht verhandeln werde – und jetzt tue ich es. Dieser Schritt ist mir persönlich mehr als schwergefallen.
Warum tun Sie es dann? Wären Neuwahlen nicht ehrlicher?
Ich tue es deshalb, weil ich glaube, dass dieser Schritt, im Vergleich zu allen anderen Alternativen, notwendig ist. Nicht für mich. Auch nicht für die Partei. Neuwahlen sind niemals eine Drohung in einer Demokratie. Aber was wäre, wenn wir in Neuwahlen gehen: Es bedeutet Stillstand. Wir hätten monatelang Wahlkampf, danach monatelange Regierungsverhandlungen. Mit einem Wahlergebnis, bei dem gar nicht sicher ist, dass drei Parteien für eine Mehrheit ausreichen. Diese Zeit wäre für Österreich sehr zum Nachteil. Ich gehe in diese Gespräche und wir werden sehen, welches Ergebnis die Verhandlungen haben.
Ich bin wirtschaftlich und persönlich unabhängig. Ich muss niemandem gefallen und muss auch nichts mehr werden.
Christian Stocker gibt sich gelassen.
Eine Partei fürchtet keine Wahlen, aber eine Partei fürchtet ein großes Minus vor dem Ergebnis. Verkauft die ÖVP nicht ihre Ehre?
Ein Minus ist bei jeder Wahl das Risiko und der Wunsch ist natürlich immer ein Plus. Wahlen sind immer ein Auf und Ab. Einmal oben, einmal unten. Das ist Demokratie. Aus den Ergebnissen bilden sich Mehrheiten. Mit der Entscheidung, mit Herbert Kickl zu verhandeln, wollen wir aus dieser schwierigen Mehrheitsbildung herauskommen und dem Land eine Chance geben. Es ist ja auch wirklich so, dass Entscheidungen fallen müssen. Das geht in einer Übergangsregierung nicht, das haben wir auch schon gesehen.
Sprich die ÖVP ist einer Lose-Lose-Situation …
Eine Win-Win-Situation ist es sicher nicht. Alles andere wird die Zukunft zeigen. Wir können nicht in die Zukunft schauen.
Sie haben Herbert Kickl noch im Dezember im Parlament ins Gesicht gesagt: „Sie braucht das Land nicht.“ Wie machen Sie das nun, wenn Sie sich in der Früh in den Spiegel schauen? Sagen Sie sich dann: „Augen zu und durch“?
Es hat nichts mit Herbert Kickl zu tun, wenn ich in der Früh in den Spiegel schaue und die Augen zumache. Aber Scherz beiseite: Wer mein Verhandlungspartner ist, entscheidet in erster Linie der Wähler. Dann kann ich es für mich auch entscheiden. Ich hatte einen anderen Plan. Karl Nehammer hat diese Zusage eingehalten und ich habe ihn auf diesem Weg begleitet. Wir haben die Verhandlungen mit der SPÖ und NEOS geführt und wollten auch den Abschluss. Karl Nehammer konnte den Regierungsbildungsauftrag aber nicht erfüllen. Nicht weil er nicht wollte, nicht weil er nicht konnte, sondern weil die SPÖ zuerst die NEOS und dann die ÖVP vom Verhandlungstisch vertrieben hat.
Haben nicht alle drei versagt? Die NEOS, die als Neun-Prozent-Partei zu große Brötchen backen wollte. Die SPÖ, weil sie die ideologische Brille nicht ablegen wollte, und die ÖVP, weil sie nicht einmal eine Bankenabgabe zulassen wollte …Das ist alles zu kurz gegriffen. Bei den NEOS habe ich schon bemerkt, dass sie einen Kompromiss finden wollten, wo man mehrere Interessenslagen verbinden kann. Aus meiner Sicht ist es an Andreas Babler gescheitert, der sich aus der Welt des Klassenkampfes nicht befreien wollte.
Herbert Kickl zu verhindern, war ein sehr zentrales Wahlversprechen. Ist das nicht eine Wählertäuschung?
Wir sind ein paar Schritte zu weit. Wir verhandeln mit der FPÖ. Ob es zu einer Einigung kommt, sehen wir am Ende der Verhandlungen.
Wie hoch sehen Sie Chancen?
Die Verhandlungen sind ergebnisoffen: Wir müssen in Österreich dringend Handlungsfähigkeit erreichen. Aber für uns ist es wichtig, dass ein Öxit nicht infrage kommt. Für uns ist wichtig, dass wir uns an der freien, westlichen Welt orientieren und nicht an Diktaturen. Für uns ist wichtig, dass die Rechtsstaatlichkeit die Grundlage der Politik ist. Wir werden sehen, wie die FPÖ diese Positionen bewertet …
Wie schaut der Fahrplan aus?
Wir werden uns der Aufgabe widmen, den Referenzpfad nach Brüssel zu melden. Hier gibt es ausführliche Vorarbeiten aus den Koalitionsverhandlungen, sodass wir schnell entscheiden können.
Ich kam in Jeans und Pulli zur Sitzung. In meiner Zukunftsplanung war ÖVP-Chef zu sein, nicht einmal eine irreale Option.
Der neue ÖVP-Chef über die Ernennung
Wie war es für Sie, plötzlich ÖVP-Chef in der Krisensitzung zu werden? Angeblich hatten sie nicht einmal einen Anzug mit …
Das stimmt. In meiner Zukunftsplanung war ÖVP-Chef zu sein, nicht einmal eine irreale Option. Am Tag, an dem ich zum geschäftsführenden Bundesparteiobmann bestellt wurde, bin ich in Rollkragenpullover und Jeans nach Wien gefahren, um die Weichenstellung vorzubereiten. Dass ich Teil dieser Weichenstellung sein soll, war nicht in meinem Plan.
Haben Sie sofort Ja gesagt?
Ich habe in meinem Leben noch nie sofort Ja oder Nein gesagt. Vielleicht einmal, was meine Frau anbelangt. Das war damals eine gute Entscheidung. Ich habe damals eine gute Entscheidung getroffen und ich hoffe, dieses Mal auch. Wie viel eine Beziehung in der Politik aushalten muss, sieht man an der Tatsache, dass meine Frau aus den Medien erfahren hat, dass ich neuer ÖVP-Chef werde.
Große Bedenken gibt es innerhalb der ÖVP, aber auch in der Hofburg wegen der Sicherheitsressorts Inneres und Verteidigung? Es soll nicht wie 2017 in die Hände der FPÖ kommen. Würden Sie Sky Shields aufgeben, damit die ÖVP das Innenressort halten wird können?
Mit welchen Positionen ich in die Verhandlungen gehe, teile ich dem Verhandlungspartner mit, wenn wir dort angekommen sind. Aber ich habe dazu klare Positionen.
Die Sie jetzt noch nicht verraten wollen?
Richtig. Solche Verhandlungen werde ich nicht öffentlich führen.
Wiens Vizebürgermeister Christian Wiederkehr von den NEOS hat im „Krone“-Interview erzählt, dass die SPÖ im Jänner ein Papier auf den Tisch legte mit 30 neuen Steuern. Stimmt das?
Es war tatsächlich so, dass wir immer wieder mit neuen Vorstellungen der SPÖ konfrontiert wurden, die als Alternativen für die Vermögenssteuern dargestellt wurden. Von mir wurden sie aber als Provokation empfunden. Ich habe das auch in den Verhandlungen gesagt. Wir haben uns intensiv bemüht, aus diesen Vorschlägen Punkte zu finden, die für uns tragbar sind, damit es einen Abschluss gibt. Wir haben insgesamt eine Milliarde Euro einnahmenseitig als möglichen Konsens gefunden, wenn das Gesamtpaket zustande kommt. Aber meine Wahrnehmung war so, dass es der SPÖ nie genug war.
Die eine Milliarde war nicht genug …
Die war nicht genug.
Angeblich wollte die SPÖ drei Milliarden …
Ja, das wollten sie. Die SPÖ wollte nur einnahmenseitige Maßnahmen, aber nicht bei den Ausgaben sparen.
Stimmt es, dass die Grand Dame der SPÖ, Doris Bures, bei den letzten Sitzungen nicht mehr im Team von Andreas Babler war?
In der Sondierungsphase war Doris Bures dabei, dann hat Andreas Babler sein Team anders zusammengestellt und Doris Bures war dann nicht mehr dabei.
Wie wollen Sie denn Ihre Rolle anlegen? Ohne Ihnen nahetreten zu wollen, Sie werden wohl den nächsten Wahlkampf nicht bestreiten …
Man kann als Parteichef ein sehr kurzes Dasein haben oder ein sehr langes. Aber das Lebensalter entscheidet nicht darüber. Ich habe mir international und national ein paar Beispiele angeschaut. Es ist in allen Richtungen offen.
Schmerzt Sie eigentlich, wenn ein ÖVP-Grande wie Franz Fischler mit dem Austritt droht, wenn eine Koalition mit der FPÖ zustande kommt …
Natürlich schmerzt es mich, wenn so eine Persönlichkeit überlegt, aufgrund dieser Entwicklungen die Familie der ÖVP zu verlassen. Ich werde versuchen, in den kommenden Wochen diese Bedenken abzuschwächen.
Viele Wirtschaftsreibende haben Bedenken, dass ein Kanzler Herbert Kickl den Wirtschaftsstandort Österreich schwächen könnte. Will das die ÖVP tatsächlich riskieren?
Wohlstand ist abhängig von einer prosperierenden Wirtschaft. Wir müssen den Wirtschaftsstandort stärken. Mir ist klar, dass wir international sehr genau beobachtet werden. Mir ist auch bewusst, dass es kritische Blicke und Besorgnisse gibt. Deswegen habe ich genau definiert, was unsere Rahmenbedingungen sind. Es darf keinen Öxit geben. Wir brauchen internationale Kooperationen im politischen und im wirtschaftlichen Bereich. Wir können uns nicht abschotten.
Ein Lieblingsfeindbild ist der ORF. Wird die ÖVP ein Bollwerk gegen die Zerschlagung des ORF sein?
Aufgrund der Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes muss es Veränderungen geben. Eine tatsächliche unabhängige Medienlandschaft ist ein wichtiger Teil unserer Demokratie. Aber wie es im Detail im ORF gelöst wird, werden wir sehen.
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