„Wer wird uns besetzen? Russen glaube ich nicht“, vermerkt Hanns Hermann Gießauf noch am 8. Mai 1945 in seinem Tagebuch. Am nächsten Tag fügt der Grazer hinzu: „Und heute früh zwei Uhr kamen die Russen. In endlosen Kolonnen von Wagen, Autos und gummibereiften Kanonen.“ Diese Nacht, als Einheiten der 57. Armee der 3. Ukrainischen Front die steirische Landeshauptstadt vom NS-Regime befreiten und ohne Widerstand unter ihre Kontrolle brachten, markiert einen Wendepunkt in der Geschichte von Graz.
Die einstige „Stadt der Volkserhebung“ kommt für insgesamt elf Wochen unter sowjetische Besatzung, zum Schrecken eines Großteils der Bevölkerung, die mit den Briten gerechnet hatte. Einheiten der 8. „British Army“ übernehmen erst im Zuge des Zonentausches am 23./24. Juli 1945 die Verwaltung der gesamten Steiermark. Doch diese kurze Phase hinterließ tiefgreifende Spuren: 75 Tage Roter Stern über Graz.
Das von Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung und Professorin für Zeitgeschichte an der Uni Graz, verfasste Buch ist vor dem Hintergrund des Gedenkjahres anlässlich des 80. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges entstanden. Auf der Grundlage erstmals vertiefend ausgewerteter Archivdokumente, Zeitungsartikel und eigens durchgeführter Interviews mit 80 Personen, die als Kinder und Jugendliche diese dramatischen Nachkriegswochen erlebten, widmet es sich dem Grazer Alltag in diesem kompakten Zeitraum von 75 Tagen oder elf Wochen – einer kurzen, aber umso prägenderen Zeit.
Die tageweise Anordnung der einzelnen Kapitel, denen jeweils ein Typoskript einer Polizeimeldung vorangestellt ist, liefert ein Kalendarium sozialer, infrastruktureller, politischer, kultureller sowie persönlicher Herausforderungen und Veränderungen. Sie spiegeln den Ausnahmezustand wider, in dem sich alle Menschen während dieser ersten Nachkriegswochen befanden: Einquartierungen, Plünderungen, Verhaftungen oder Vergewaltigungen kommen ebenso zur Sprache wie die prekäre Versorgungslage, die Wohnungsnot, die Wiederaufnahme des Schulbetriebs, Entnazifizierungsmaßnahmen oder der Neubeginn eines Kulturbetriebes. Auch die persönlichen Erfahrungen mit sowjetischen Besatzungssoldaten, die als sehr kinderlieb galten, werden beleuchtet.
Einheimische Kinder fuhren mit Rotarmisten durch die Stadt
So gibt es immer wieder Erzählungen, wie etwa einheimische Kinder mit Rotarmisten durch die Stadt fahren. Ein Grazer erinnert sich: „Sie haben uns auf einen Jeep oder auf irgendein Militärfahrzeug gesetzt und haben eine Stadtführung gemacht.“ Bis zur Grazer Messe fuhren er und einige Freunde mit den Rotarmisten mit. Doch als sie zurückkehrten, herrschte eine große Aufregung, „die ganze Mondscheingasse war voll von Eltern, weil wir nicht da waren. […] ‚Da gehst du nie wieder hin!‘ Aber wer hält sich schon an Verbote?“ Nur zwei Tage später gingen die Kinder wieder hin, wurden sogar verköstigt, mit einem Brot mit Zucker drauf. „Ich kann mich an diesen Zucker erinnern!“, meint der Zeitzeuge.
Gerade die Versorgungsnot direkt nach Kriegsende spielte eine große Rolle. Eine Interviewpartnerin erinnert sich, wie ihre Mutter mit dem Fahrrad zu Bauern gefahren ist, das Auto war konfisziert: „Das war abenteuerlich. Und [sie] hat dann Dinge versetzt, zum Beispiel einen Pelzmantel oder so etwas. Oder einen Brillantring oder einen Fotoapparat, was man halt hat als Wertgegenstände. Und das haben dann die Bauern eingetauscht gegen Schmalz und gegen Brot. Und meine Mutter hat gesagt, sie hat immer gezittert, wenn sie ein[en] Laib Brot angeschnitten [hat], ob es wohl reicht.“
Und da sind die Russen mit großen Kübeln gekommen, mit Kaša, also Fleisch und Dings drinnen. Und mit großen Schöpfern. […] Und meine Mutter hat jedes Mal ein Schmuckstück hergegeben. Und dann haben wir gekriegt.
Zeitzeugin
Tauschgeschäfte mit sowjetischen Besatzungssoldaten
Eine wesentliche Quelle für Tauschgeschäfte sind auch die sowjetischen Besatzungssoldaten selbst. „Neuer Wortschatz: ras 1, dwa 2, tri 3, caroscha (gut)“, notiert Hanns Hermann Gießauf in seinem Tagebuch und fügt hinzu, wie viele Zigaretten, Brot, Fleisch und Tabak er an diesem Tag von „seinen Russen“ bekommen hat: „Ich bin zu spät draufgekommen, wie man’s macht …“ Zwei Tage später schreibt er: „Heute gab Oberleutnant Wäsche zum Waschen und uns dafür für Bezahlung 60 Cigaretten. Jetzt hamstere ich einmal Cigaretten.
Auch einer anderen Zeitzeugin ist im Gedächtnis geblieben, wie ihre Mutter mit den Rotarmisten, die auf dem Sportplatz neben ihrem Garten gekocht haben, gehandelt hat: „Und da sind die Russen mit großen Kübeln gekommen, mit Kaša, also Fleisch und Dings drinnen. Und mit großen Schöpfern. […] Und meine Mutter hat jedes Mal ein Schmuckstück hergegeben. Und dann haben wir gekriegt. Und so haben wir uns über die allerschlechteste Zeit hinweggeschummelt. Zum Guten, dass die Russen dort waren.“
Als erzählerisches Sachbuch konzipiert, wählte Stelzl-Marx die Perspektive der Dolmetscherin des sowjetischen Stadtkommandanten, Frau Herzog, um die zentralen Themen der sowjetischen Besatzungszeit zu beleuchten. Dies zieht sich als roter Faden durch den gesamten Text. So soll Johanna Herzog als Identifikationsfigur einen möglichst unmittelbaren, lebendigen und vielschichtigen Einblick in den Alltag unter dem Roten Stern erlauben, gleichsam aus einer Sicht „von unten“. Zitierte O-Töne von Interviewpartnerinnen und -partnern, die sich mit einem zeitlichen Abstand von beinahe acht Jahrzehnten zurückerinnern, Zeitungsartikel und Ego-Dokumente untermauern diesen Zugang. „Das bringt man nicht mehr raus, das hat man ein Leben lang“, betont etwa einer der Interviewpartner.
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