„Enorme Unsicherheit“

Historiker-Brandrede sorgt in Hofburg für Aufsehen

Innenpolitik
27.04.2025 15:55

Es sind 80 Jahre vergangen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Proklamation der Unabhängigkeit Österreichs, 70 Jahre seit der Unterzeichnung des Staatsvertrags. Aus diesem Anlass wurde am Sonntag vor der Wiener Hofburg ein bewegender Festakt zur Gründung der Zweiten Republik abgehalten. Neben Ansprachen der heimischen Spitzenpolitik sorgte dabei eine flammende Rede des Historikers Sir Christopher Clark für großes Aufsehen.

Folgend die Rede von Sir Christopher Clark im genauen Wortlaut. Für die bessere Übersicht wurden von der Redaktion einige Zitate hervorgehoben.

Sir Christopher Munro Clark ist ein in Großbritannien lebender australischer Historiker. (Bild: APA/Wolfgang Huber-Lang)
Sir Christopher Munro Clark ist ein in Großbritannien lebender australischer Historiker.

Vor genau 80 Jahren – am 27. April 1945 – wurde die Unabhängigkeit Österreichs erklärt. Das war der Sprung aus einer Epoche in der Geschichte des Landes und Europas in eine andere. Aus der Ferne betrachtet werden aus solchen Momenten glatte, reibungslose Übergänge, bloße Punkte auf der Zeitachse. Wir vergessen, wie offen damals die Zukunft noch war, wie turbulent und unsicher der zeitgenössische Kontext.

Als die Unabhängigkeit im sowjetisch besetzten Wien ausgerufen wurde und die Menschen auf der Ringstraße den Donauwalzer tanzten, gespielt von einer sowjetischen Militärkapelle, war der Zweite Weltkrieg noch nicht vorbei. Am folgenden Tag – dem 28. April – ließ Gauleiter August Eigruber oberösterreichische Widerstandskämpfer im KZ Mauthausen noch vergasen. In der ersten Maiwoche – nach dem Selbstmord Hitlers in Berlin – ermordeten Männer der Waffen-SS in Hofamt Priel in Niederösterreich 228 ungarische Jüdinnen und Juden.

August Eigruber links hinter Adolf Hitler 1938 in Linz (Bild: Archiv der Stadt Linz)
August Eigruber links hinter Adolf Hitler 1938 in Linz

Auch die politische Situation war alles andere als eindeutig. Die neugebildete, von Karl Renner geführte provisorische Staatsregierung, bestehend aus zehn Vertretern der SPÖ, neun der ÖVP, sieben der KPÖ und drei Unabhängigen, wurde zunächst einzig von der Sowjetunion anerkannt. Sie war dementsprechend nur in der sowjetisch besetzten Zone im Osten Österreichs voll wirkungsmächtig. Anfangs stand Renner, der am 3. April 1945 Kontakt mit den sowjetischen Truppen aufgenommen hatte und die Zustimmung zur Bildung einer neuen österreichischen Regierung erlangte, bei den Westalliierten noch im Verdacht, mit den Sowjets zu kollaborieren. Erst am 11. September 1945 wurde der neue Staat per Beschluss des Alliierten Rates durch die USA, Großbritannien und Frankreich anerkannt. Aber es hätte auch anders kommen können, denn es gab abweichende Denkmodelle, vor allem von Seiten Großbritanniens: So gab es die Ideen eines föderalistisch organisierten „Alpenstaates“ zusammen mit Bayern oder die einer dem alten Kaiserstaat ähnlichen „Donaukonföderation“.

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Bewusst ausgeklammert wurden die autoritäre Maiverfassung, oktroyiert vom österreichischen Ständestaat im Jahre 1934, und natürlich der Anschluss an das totalitäre Nazideutschland.

Sir Christopher Clark

Interessant an diesem Staatsgründungsakt war auch seine zeitliche Struktur. Man griff nämlich auf Karl Renner, der bereits von Herbst 1918 bis Sommer 1920 als erster Staatskanzler der Republik gedient hatte, zurück. Und im ersten Artikel der Unabhängigkeitserklärung hieß es, die demokratische Republik Österreich würde nicht gegründet, sondern „wiederhergestellt und [sei] im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten“. Damit sollten auch Kontinuitäten zu früheren österreichischen Verfassungsentwürfen sichtbar werden, die fragmentarisch in der Verfassung von 1920 überlebten, wie zum Beispiel zur nie in Kraft getretenen Revolutionsverfassung des Jahres 1849 oder zum Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom Jahre 1867. Bewusst ausgeklammert wurden die autoritäre Maiverfassung, oktroyiert vom österreichischen Ständestaat im Jahre 1934, und natürlich der Anschluss an das totalitäre Nazideutschland.

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Um einen Weg in die Zukunft zu finden, schaute man also weiter zurück in die Vergangenheit.

Sir Christopher Clark

Um einen Weg in die Zukunft zu finden, schaute man also weiter zurück in die Vergangenheit. Und wenn wir heute auf die 80 Jahre zurückblicken, die seit jenem Akt der Neugründung verstrichen sind, so scheinen sie auf den ersten Blick in zwei ganz unterschiedliche Hälften zu zerfallen. Die erste, die vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis 1989/90 dauerte, war gekennzeichnet – in Europa jedenfalls – durch einen dauerhaften Frieden, vergleichbar mit den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress nach 1815. Ein krasserer Kontrast mit der chronischen Instabilität und Polarisierung der Jahre 1914 bis 1945 ließe sich kaum vorstellen. Zusammen mit den anderen Staaten in Europa, und dem Westen überhaupt, trat Österreich in eine Zeit der öffentlichen Ruhe und des Wachstums, unterstützt von den westlichen Siegermächten und insbesondere von den USA. Die Zeit der Straßenkämpfe, Staatsstreiche und autoritären Experimente war vorbei. Es entstand zum ersten Mal eine stabile Demokratie.

Nach dem Abzug der Besatzungstruppen aus dem Staatsgebiet 1955 verpflichtete sich die junge Republik, die erst in jenem Moment ihre vollständige Souveränität erlangte, der „immerwährenden Neutralität“. Das tat sie aus freien Stücken, allerdings auch als Gegenleistung für den Abzug der Sowjettruppen. Der Begriff Neutralität wurde ins Verfassungsgefüge der Republik eingebaut, auch wenn sie gemäß einer sich wandelnden geopolitischen Lage immer wieder neu definiert wurde. Später erlangte das kleine Land durch die Ansiedlung internationaler Organisationen globales Ansehen und politisches Gewicht.

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Es gab zwar noch viel Gewalt und viele Konflikte in der damaligen Welt, aber jene Unruhe wurde durch eine verblüffend einfache Struktur gezähmt.

Sir Christopher Clark

Es gab zwar noch viel Gewalt und viele Konflikte in der damaligen Welt, aber jene Unruhe wurde durch eine verblüffend einfache Struktur gezähmt: die bipolare Stabilität des Kalten Krieges. Die Ereignisse waren wie zu allen Zeiten unberechenbar, aber der äußere Rahmen war relativ solide. Aus der sprichwörtlichen Versuchsstation für den Weltuntergang war eine befriedete Grenzprovinz des Westens geworden.

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Diese neue Nachkriegsepoche fing – in Europa jedenfalls – sehr schön an! Es vollzog sich eine tiefgreifende Veränderung der geopolitischen Ordnung Europas im Frieden.

Sir Christopher Clark

Nach der Wendezeit 1989/90 kam etwas ganz anderes. Der Kalte Krieg war passé und nach ihm kam etwas Neues. Was dieses neue Etwas sein sollte, bleibt bis heute umstritten. Wir sind noch dabei, seinen historischen Charakter festzustellen. Eines dürfen wir aber nicht vergessen: Diese neue Nachkriegsepoche fing – in Europa jedenfalls – sehr schön an! Es vollzog sich eine tiefgreifende Veränderung der geopolitischen Ordnung Europas im Frieden. Man sollte sich merken, wie erstaunlich das war. Der Westfälische Frieden vom Jahre 1648; die Entstehung eines deutschen Nationalstaats im Herzen des europäischen Kontinents 1871; die Neugestaltung Mitteleuropas nach 1918 im Sinne des Versailler Vertrags; und die Teilung Europas nach 1945 - diese Umwälzungen der staatlichen Ordnungen auf dem europäischen Kontinent wurden alle durch Kriege herbeigeführt, und man könnte sogar sagen, mit Millionen von Menschenleben erkauft.

1989/90 verlief alles ganz anders. Ein seit 40 Jahren bestehendes osteuropäisches Sicherheitssystem brach ohne Krieg in sich zusammen, ein Imperium wurde abgebaut, der globale ideologische Gegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus verabschiedete sich, das Gleichgewicht der Mächte auf dem Kontinent kam ins Wanken – aber alles ohne Krieg.

1989 fiel die Berliner Mauer, Europa atmete auf. (Bild: Wolfgang Kumm / dpa / picturedesk.com)
1989 fiel die Berliner Mauer, Europa atmete auf.

Europa atmete auf. Was danach kam, der Zusammenbruch der Sowjetunion, der schlagartige wirtschaftliche und gesellschaftliche Kollaps Russlands, die Jugoslawienkriege, die zwei Tschetschenienkriege, der Terrorangriff auf New York am 11. September 2001, der Afghanistankrieg, der zweite Irakkrieg und seine Nachwehen, die Georgien-Krise, die Weltwirtschaftskrise, die Ukraine-Krise, die griechische Finanzkrise und die Flüchtlingskrise, hatte niemand vorhergesehen. Das sind die Ereignisse, die unsere Gegenwart, die gegenwärtige Epoche der europäischen Geschichte eigentlich geprägt haben.

Diese Nachkriegsepoche war anfangs durch einen überwältigenden Fokus auf die amerikanische Macht gekennzeichnet. Die Welt schien sich um Washington zu drehen. Der Ausdruck „New American Century“ war in Mode und die Entscheidungsträger in Washington sprachen von „Vollspektrum-Dominanz“ („full spectrum dominance“), also von einer militärischen und diplomatischen Dominanz, die sich über alle bedeutenden Handlungsbereiche und Waffengattungen erstreckte.

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Dieses Arbeitspapier stellte die These auf, der Großangriff auf den Irak 1990/91, „Operation Desert Storm“ genannt, stelle den Höhepunkt militärischer Leistungsfähigkeit seit den Anfängen der Geschichte der Menschheit dar.

Sir Christopher Clark

Ich erinnere mich, wie ich damals ein Arbeitspapier aus dem Pentagon las. Dieses Arbeitspapier stellte die These auf, der Großangriff auf den Irak 1990/91, „Operation Desert Storm“ genannt, stelle den Höhepunkt militärischer Leistungsfähigkeit seit den Anfängen der Geschichte der Menschheit dar. Mehr sogar als Napoleon und Hitler, meinte der Autor, der selbst eine bedeutende Rolle im Fall „Desert Storm“ gespielt hatte, habe man bei diesem Unternehmen nicht nur eine vollkommene Kontrolle des Kampfraumes erzielt, sondern auch die zeitgleiche Koordination aller Gebiete des Kampfgeschehens verwirklicht, dank des Einsatzes von „deep strike delivery systems“, die einen globalen, dreidimensionalen vernichtenden Schlag gegen den Feind ermöglichten.

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Was an solchen Studien aus den frühen 90er-Jahren auffällt, ist ihre grenzenlose Begeisterung für die eigene Zeit, eine Begeisterung, die an Siegesrausch grenzt.

Sir Christopher Clark

Was an solchen Studien aus den frühen 90er-Jahren auffällt, ist ihre grenzenlose Begeisterung für die eigene Zeit, eine Begeisterung, die an Siegesrausch grenzt. Man meinte, man hätte die Kulmination einer langen geschichtlichen Entwicklung erreicht. Man stand auf dem Höhepunkt der Moderne. Ja, man meinte sogar, die Geschichte selbst habe sich in diesem sich anbahnenden amerikanischen Jahrhundert vollendet. In einem einflussreichen und vielfach missverstandenen Essay aus dem Jahre 1992 sprach der US-Politologe Francis Fukuyama von dem „Ende der Geschichte“, dem „End of History“. Die Dampflokomotive der Geschichte war, so Fukuyama, in ihre Endstation eingefahren.

Das war die Epoche des Post-Cold War. Aber sie dauerte nicht lange. Die Katastrophen, die auf die ersten Erfolge des zweiten Irak-Krieges folgten, ließen Zweifel aufkommen, wie gut die USA ihre „full spectrum dominance“ in dauerhafte Ergebnisse würden umsetzen können. Das Putin-Regime desavouierte die Politik der Gorbatschow- und Jelzin-Ära und begann, gegen die USA, NATO und EU vorzugehen. Statt zu kollabieren oder zu fragmentieren, wie viele in Washington und anderswo vorhergesagt hatten, trat China in eine Phase des atemberaubenden Wachstums ein, erlangte ein neues Zielbewusstsein und begann, die ererbte geopolitische Ordnung zuerst im Südchinesischen Meer und dann weltweit anzufechten.

Inmitten all dieser Veränderungen ging die Zeit des Post-Cold War zu Ende. Und was kam danach? Der Politikwissenschaftler George Friedman schlug die Rubrik vor: „Post-post-Cold War“, also die Zeit nach der Zeit nach dem Kalten Krieg. Die Chinesen waren da weniger zögerlich. Die offizielle Bezeichnung der chinesischen Regierung für die aktuelle Ära lautet: „The Period of Strategic Opportunity“ („Die Zeit strategischer Chancen oder Handlungsmöglichkeiten“).

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Was die zeitgenössische Ära kennzeichnet, ist das Wiederauftauchen einer authentischen Multipolarität.

Sir Christopher Clark

Aber die Namen sind gleichgültig. Was die zeitgenössische Ära kennzeichnet, ist das Wiederauftauchen einer authentischen Multipolarität. Präsident Donald Trump hat Zweifel am amerikanischen Engagement für die NATO geäußert. Er plädiert für eine interessengeleitete Außenpolitik der Staaten untereinander und für eine Weltordnung, die auf den Realitäten der militärischen und wirtschaftlichen Macht fußt. Die vermeintliche Wertegemeinschaft befreundeter Staaten soll hier keine Rolle spielen.

Die Reden und Proteste gekränkter „Kammerzelebritäten“ sind für Trump, wie im mittleren 19. Jahrhundert auch für Otto von Bismarck, belanglose Nebengeräusche. Das Putin-Regime hat einen blutigen Konflikt in der Ukraine initiiert, für den keine Lösung in Sicht ist. Und es sind neue Regionalmächte entstanden, die entschlossen sind, in ihren jeweiligen Gebieten die Vorherrschaft zu behaupten. Wichtig an dieser neuen geopolitischen Ordnung, oder Unordnung, sind nicht nur die wachsenden Spannungen unter den Großmächten, sondern die schwindende Solidarität unter befreundeten Staaten. Und hier darf man nicht vergessen, dass vor 1914 das mangelnde Vertrauen unter Verbündeten genauso und erheblich zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges beigetragen hat wie der Argwohn und das Misstrauen zwischen den verfeindeten Bündnisblöcken.

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Wir befinden uns in der Tat am Ende dessen, was wir einst Moderne nannten.

Sir Christopher Clark

1991 erschien ein Essay des französischen Soziologen Bruno Latour unter dem interessanten Titel „Wir sind nie modern gewesen“ („Nous n’avons jamais été modernes“). Darin stellte Latour die These auf, die Moderne sei als Mythos des unaufhaltbaren Fortschritts nicht mehr brauchbar. Die Zeit wäre gekommen, uns von ihr zu verabschieden. Als ich das Buch zuerst las, fand ich die These überzogen. Aber mit der Zeit hat sie für mich an Plausibilität gewonnen. Denn wir befinden uns in der Tat am Ende dessen, was wir einst Moderne nannten.

F-35-Kampfjet der US Air Force – Präsident Donald Trump hat Zweifel am amerikanischen Engagement für die NATO geäußert. (Bild: AFP/John Thys)
F-35-Kampfjet der US Air Force – Präsident Donald Trump hat Zweifel am amerikanischen Engagement für die NATO geäußert.

Was hinter uns liegt, ist die Epoche der drastisch beschleunigten Industrialisierung, der Start in ein nachhaltiges demographisches und wirtschaftliches Wachstum, durch die Entstehung der Nationalstaaten, durch Wohlfahrtsstaaten, durch materielle Sättigung (jedenfalls im Westen), durch den Aufstieg der großen Zeitungen und die Entstehung des nationalen Rundfunkund Fernsehnetzes und natürlich auch durch die großen Volksparteien, die gleichsam Anker waren und Bezugssystem für kollektive Identitäten boten. Diese Moderne war mehr als eine Ansammlung von Institutionen, sie schuf gleichzeitig ihre eigene Art der Mythologie, eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen konnten, ein Mittel, uns in der Zeit zu verorten, zu verstehen, wo wir herkommen und wo wir hinstreben.

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In der Moderne geschah die Verbreitung von Informationen zunehmend über einflussreiche Medienkanäle – Gerüchtemacher wichen ausgebildeten Journalisten.

Sir Christopher Clark

Der in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts modisch werdenden Modernisierungstheorie zufolge waren wir alle in einem Prozess des Wandels gleichsam verfangen. Die Modernisierungstheoretiker stellten sich die Gegenwart als eine Bündelung von Vektoren vor. Modern zu werden hieß, immer demokratischer zu werden; eine vollkommenere Chancengleichheit herzustellen; den Sieg der Kernfamilie über die verzweigten Verwandtschaftsnetzwerke der Vormoderne zu verkünden; bedeutete Säkularisierung; Bürokratisierung; Verabsolutierung des Rechtsstaates als Befreiung von den persönlichen Machtverhältnissen des Ancien Régime. Und es hieß Mediatisierung: In der Welt des alten Europas hatte man angeblich seine Informationen von Freunden und Bekannten, oder auch von Fremden, aber immer von Personen, vom Mund ins Ohr erhalten; in der Moderne geschah die Verbreitung von Informationen zunehmend über einflussreiche Medienkanäle – Gerüchtemacher wichen ausgebildeten Journalisten.

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Diese Moderne zerbröselt vor unseren Augen.

Sir Christopher Clark

Diese Moderne zerbröselt vor unseren Augen. Das nationale Rundfunk-, Fernseh- oder Zeitungspublikum, die Partei als Anker und Bezugssystem für Identitäten, das Wachstum als Axiom unserer Existenz – das alles gibt es bald nicht mehr. Das moderne politische System in Österreich, wie in Europa und den Vereinigten Staaten, befindet sich in einem Zustand der Verflüssigung. Eine schwache und formlose Mitte wird von links und rechts in die Defensive gedrängt, wobei oft unklar ist, welche Ideen und Forderungen zu den Rechten und welche zu den Linken zu rechnen sind.

Die Skepsis gegenüber klassischen Medien wächst schnell. (Bild: APA/Barbara Gindl)
Die Skepsis gegenüber klassischen Medien wächst schnell.

In ihren Details variierten die Bilder von Land zu Land und über verschiedene politische und soziale Milieus hinweg, aber es gab im Zeitalter der Moderne eine grundlegende Geschichte, eine „große Erzählung“ (JeanFrançois Lyotard), ein Meisternarrativ, das den meisten Menschen im westlichen politischen Mainstream plausibel schien. Es war eine Geschichte über den zunehmenden Wohlstand, der mit wirtschaftlichem Wachstum verbunden war, über technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt; über die Universalität der Menschenrechte und die unverzichtbaren Vorzüge eines spezifischen liberaldemokratischen Gesellschaftsmodells.

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Die vielgestaltige Qualität der zeitgenössischen Politik, Aufruhr und Veränderung ohne festes Gefühl für die Fahrtrichtung, sorgt für enorme Unsicherheit.

Sir Christopher Clark

Dieses Entwicklungsnarrativ – die Weltgeschichte als Bildungsroman – tröstet uns nicht mehr so wie früher. Das Wirtschaftswachstum in seiner modernen Form hat sich als ökologisch katastrophal erwiesen. Der Kapitalismus hat viel von seinem Charisma eingebüßt; er gilt heute sogar (wenn wir Thomas Piketty und anderen Kritikern folgen) als eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt. Und dazu kommt noch, das Ganze überspannend wie ein drohendes Sturmgewitter: der Klimawandel, eine Bedrohung, die nicht nur den Charakter der Zukunft infrage stellt, sondern die Befürchtung nahelegt, es werde vielleicht gar keine Zukunft geben. Die vielgestaltige Qualität der zeitgenössischen Politik, Aufruhr und Veränderung ohne festes Gefühl für die Fahrtrichtung, sorgt für enorme Unsicherheit.

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Diese Unsicherheit wird insbesondere seit der Corona-Pandemie durch den Zusammenbruch des Vertrauens in das Fachwissen der Wissenschaft und damit auch in die Glaubwürdigkeit der Behörden und ihrer Vertreter, und durch die drastisch gewachsene Skepsis gegenüber den alten Medien vertieft.

Sir Christopher Clark

Diese Unsicherheit wird insbesondere seit der Corona-Pandemie durch den Zusammenbruch des Vertrauens in das Fachwissen der Wissenschaft und damit auch in die Glaubwürdigkeit der Behörden und ihrer Vertreter, und durch die drastisch gewachsene Skepsis gegenüber den alten Medien vertieft.

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Hier könnte man sogar von einer Umkehrung des von der Modernisierungstheorie postulierten Prozesses der Mediatisierung sprechen, da die Klatschmäuler des Internets die Informationsinitiative an sich gerissen und die Experten und Berufs- und Fachjournalisten hinter sich gelassen haben.

Sir Christopher Clark

Hier könnte man sogar von einer Umkehrung des von der Modernisierungstheorie postulierten Prozesses der Mediatisierung sprechen, da die Klatschmäuler des Internets die Informationsinitiative an sich gerissen und die Experten und Berufs- und Fachjournalisten hinter sich gelassen haben. Die sich daraus ergebende Fragmentierung des Wissens und der Meinungen wird zum Teil durch das Wesen der neuen Kommunikationsmittel selbst bedingt, durch unseren Umgang mit ihnen, zum Teil aber auch durch gezielte Manipulierung der Netzwerke, durch ihre absichtliche Polarisierung, vorangetrieben.

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Die Krise unserer Zeit passiert nicht nur vor unseren Augen, sondern in unseren Köpfen.

Sir Christopher Clark

Damit haben wir den Punkt erreicht, wo wir sagen können: Die Krise unserer Zeit passiert nicht nur vor unseren Augen, sondern in unseren Köpfen. Von den Websites und Newsfeeds tönen die Kampfworte und Talking Points der „Terribles Simplificateurs“, die uns in dieses oder jenes Lager hetzen wollen. Das ruhige Nachdenken ist niemals so schwierig gewesen. Aber gerade das stille Nachdenken, pragmatisch und ergebnisoffen, ist das, was uns heute so dringend nottut.

Als Mitglied der EU ist Österreich verfassungsrechtlich der Wertegemeinschaft der Europäischen Union verpflichtet. Wie diese Verpflichtung unter dem Druck des russischen Angriffskrieges in der Ukraine mit der immerwährenden Neutralität des Landes in Einklang gebracht werden kann, steht noch offen. Man ist bisher recht flexibel mit dem Neutralitätsbegriff umgegangen. Je mehr der Angriff auf die Ukraine sich als Vorstoß gegen Europa und seine liberaldemokratische Gesellschaftsordnung überhaupt entpuppt, desto mehr wird der Druck auf die Entscheidungsträger wachsen.

Durch den Ukraine-Krieg wächst der Druck auf europäische Entscheidungsträger. (Bild: xbrchx - stock.adobe.com)
Durch den Ukraine-Krieg wächst der Druck auf europäische Entscheidungsträger.

Als der Schwedenkönig Gustavus Adolphus 1631 mitten im Dreißigjährigen Krieg mit einer großen Armee nach Berlin kam, fragte er den Kurfürsten von Brandenburg nach seinen Intentionen. Der Kurfürst sagte, er habe vor, neutral zu bleiben. „Neutral?“, fragte der König. „Ich will von diesem Wort nichts hören. Es geht um einen Kampf zwischen Gott und dem Teufel.“ Es gibt natürlich in der wirklichen Welt, in der Welt, die wir bewohnen, keine Kriege zwischen Gott und dem Teufel, und die Optionen sind immer zahlreicher, als die Mächtigen zugeben wollen.

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Gerade heute mehren sich die Indizien, dass uns eine Entscheidung zwischen der pluralistischen, rechtsstaatlichen Demokratie und einer Reihe von autoritären Alternativen bevorsteht, von der „illiberalen Demokratie“ bis hin zur offenen Gewalt und Willkürherrschaft.

Sir Christopher Clark

Die klügsten Antworten auf die dornigen Fragen, die die Geschichte uns stellt, sind niemals absolut, sondern immer partiell und situationsbedingt gewesen. Aber jedes Prinzip hat seine Grenzen. Gerade heute mehren sich die Indizien, dass uns eine Entscheidung zwischen der pluralistischen, rechtsstaatlichen Demokratie und einer Reihe von autoritären Alternativen bevorsteht, von der „illiberalen Demokratie“ bis hin zur offenen Gewalt und Willkürherrschaft. In dieser existentiellen Frage sind wir – so hoffe ich – in diesem Saal alles andere als neutral.

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