Europa am Scheideweg
EU: Brexit könnte Dominoeffekt auslösen
Nach zwei Tagen Trauerzeit ist in Großbritannien der Brexit-Wahlkampf wieder voll losgebrochen - wieder mit einer Leidenschaft, die man dem "coolen" Land nicht zugetraut hätte. Wie zu erwarten war, hat das tödliche Attentat auf die EU-Befürworterin Jo Cox das bisherige Umfragebild umgedreht: 45 Prozent wollen jetzt für den Verbleib in der EU stimmen, 42 Prozent für den Austritt. Bis zur Abstimmung am Donnerstag ringen nun die beiden Lager um die Unentschlossenen. Die Briten sind mit einer ausgeprägten EU-Skepsis aber nicht alleine in Europa. Falls der Brexit tatsächlich kommen sollte, könnte sich das auf die politische Landschaft vieler EU-Staaten auswirken.
Ein Nein der Briten zur EU könnte Bestrebungen in anderen Mitgliedsstaaten stärken, denselben Weg einzuschlagen. Diese Befürchtung wird in Brüssel offen ausgeprochen: So warnte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker unlängst, ein Briten-Austritt könnte woanders "Lust auf mehr" machen. Ein Überblick über mögliche Volksabstimmungen in den Mitgliedsländern, auch zu anderen EU-Themen.
- Ungarn: Weit fortgeschritten sind die Pläne der national-konservativen Regierung von Premier Viktor Orban für ein Referendum zu den EU-Flüchtlingsquoten. Dabei geht es um künftige, nicht um die schon beschlossenen Quoten. Gegen Letztgenannte klagt Budapest vor dem Europäischen Gerichtshof. Die demokratische Opposition kündigte bereits einen Boykott des Referendums an. Damit es gültig ist, müssen mindestens 50 Prozent der Wahlberechtigten teilnehmen.
- Tschechien: Brexit hat die Debatte über einen möglichen "Czexit" Tschechiens entfacht. Ein Ja der Briten zum Austritt würde eine "Welle des Nationalismus und Separatismus" in ganz Europa auslösen, warnt der sozialdemokratische Regierungschef Bohuslav Sobotka. Beobachter befürchten, dass das Thema dann den tschechischen Parlamentswahlkampf von 2017 dominieren könnte. Als schärfster EU-Kritiker gilt Ex-Präsident Vaclav Klaus, der zuletzt beim AfD-Parteitag in Stuttgart auftrat. Anfang Mai scheiterte (noch?) ein Antrag der rechtspopulistischen Partei Morgenröte (Usvit), über ein Austrittsreferendum im Abgeordnetenhaus in Prag zu beraten.
- Polen: Ende März stoppte Polen die Aufnahme von Flüchtlingen. Regierungschefin Beata Szydlo sieht nach den Terroranschlägen von Brüssel "derzeit keine Möglichkeit, dass Flüchtlinge nach Polen kommen". Szydlo und ihre nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit hatten bereits im Wahlkampf im Herbst des Vorjahres Furcht vor muslimischen Flüchtlingen geschürt. Die nationalistische Bewegung, als Teil der Partei Kukiz15 auch im Parlament vertreten, sammelt derzeit Unterschriften für eine Volksabstimmung, bei der die Bürger über die Aufnahme von Flüchtlingen entscheiden sollen. Ob das Referendum durchgeführt wird, ist offen.
Niederlande: Eine Mehrheit der Niederländer wäre nach Umfragen für eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft. Es gibt aber nur das Instrument eines "ratgebenden" Referendums. Das gab es erst im April: Auf Initiative EU-kritischer Bürgerinitiativen wurde das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine abgelehnt. Dieselben Initiativen kündigten nun eine Volksabstimmung über den Austritt aus der EU, einen "Nexit", an. Das jedoch schließt das Referendum-Gesetz aus. Volksabstimmungen dürfen nur über noch nicht ratifizierte Verträge gehalten werden. Anfang Mai sagten 61 Prozent der Niederländer in einem Referendum Nein zum EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Rechtspopulist Geert Wilders bejubelte das Ergebnis als "fantastisch". Es zeige, dass viele Niederländer "die Nase voll von der Europäischen Union" hätten.
- Frankreich: Die Chefin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, erneuert regelmäßig ihre Forderung nach einem Referendum über einen Austritt Frankreichs aus der EU. Eine Volksabstimmung ist allerdings nur mit Zustimmung des Staatspräsidenten möglich. Die EU-Abgeordnete und erbitterte Europa-Gegnerin Le Pen machte ihre Partei bei der Europawahl zur stärksten Kraft in Frankreich. Bruno Le Maire, ein potenzieller Kandidat der bürgerlichen Rechten für die Präsidentschaftswahl 2017, fordert auch ein Referendum - allerdings um die EU-Verträge zu ändern und die Union damit zu stärken.
Erst am Freitag Woche haben rechtspopulistische Parteien bei einem Treffen in Wien ähnliche Volksabstimmungen wie das Brexit-Referendum in anderen EU-Staaten gefordert. "Ich möchte, dass alle Länder gefragt werden in Bezug auf ihre Beziehung zur Europäischen Union", sagte Marine Le Pen. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache sagte, er wolle durch Reformen einen "Selbstmord" der EU verhindern.
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