"Es ist mir rätselhaft, weshalb aus den Vorgängen im Jahr 2015 nicht die richtigen Lehren gezogen worden sind." Ein vernichtendes Urteil fällt Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) über Europas Strategie nach der Flüchtlingskrise im Herbst des Vorjahres. Tatsächlich sind seit Jänner 2016 fast genauso viele Migranten in Italien angekommen wie im Vorjahr. Doskozil kritisiert in diesem Zusammenhang die Politik der deutschen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im "Krone"-Gespräch ungewöhnlich scharf.
Wörtlich sagt Doskozil: "Die 'Wir schaffen das'-Politik ist unverantwortlich." Der Verteidigungsminister bezieht sich dabei auf die berühmt gewordene Parole der deutschen Kanzlerin am 31. August 2015. Merkel wiederholte den Satz mehrfach. Erst Ende Juli bekräftigte Merkel ihren Slogan, der zum Inbegriff der "Willkommenskultur" geworden ist - und das brachte bei Doskozil das Fass zum Überlaufen. Das sei eine Ermunterung für Flüchtlinge. Aber es müsse klar sein: "Ein Jahr 2015 darf sich nicht wiederholen."
Der Verteidigungsminister im Gespräch mit krone.tv-Moderator Gerhard Koller:
Anziehungsfaktor für Flüchtlinge nach Europa
Die ständige Wiederholung dieser Willkommensformel führe laut dem Verteidigungsminister allerdings nur dazu, dass ein neuer "Anziehungsfaktor für Fluchtbewegungen nach Europa entsteht". Und es könne auch keine Rede davon sein, dass "wir das schaffen". Man brauche nur nach Italien zu schauen, das "überfordert und allein gelassen" werde.
"Wenn mitten in Mailand Zelte für Flüchtlinge aufgestellt werden müssen, kann doch keiner wirklich behaupten, dass wir diesen Zustrom in vernünftiger Weise bewältigen", erklärt Doskozil. Und an die Adresse von Merkel sagt er: "Österreich ist nicht das Wartezimmer für Deutschland." Dazu verweisen die Experten des Verteidigungsministeriums auf die neuesten Zahlen von den Beobachtungsposten, die seit Jahresbeginn die Ankunft von knapp mehr als 100.000 Migranten registriert haben.
Immer mehr Migranten kommen aus Afrika
Dabei handelt es sich in der überwiegenden Zahl keineswegs um Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten in Syrien. Die größte Gruppe der Flüchtlinge kommt mit 20 Prozent aus Nigeria. Gefolgt von immer mehr Menschen aus Eritrea im nordöstlichen Afrika mit zwölf Prozent sowie Flüchtlingen aus den afrikanischen Ländern Gambia, Elfenbeinküste, Sudan und Guinea mit jeweils sieben Prozent.
"Eine Abnahme der Fluchtursachen auch mit internationaler Unterstützung in den einzelnen Herkunftsländern ist mittelfristig nicht absehbar", lautet dazu die der "Krone" vorliegende Einschätzung der Armee-Strategen.
"Kopf in den Sand zu stecken ist keine Politik"
Statt einer "Wir schaffen das"-Willkommenspolitik drängt Doskozil auf die möglichst rasche Einberufung eines "Rückführungs-Gipfels auf europäischer Ebene". Europa müsse rasch die geeigneten Mittel und Vereinbarungen treffen, um Migranten in die Herkunftsländer zurückzubringen. Hier wäre bisher wenig passiert. "Es ist keine Politik, wenn Europa hier in Agonie verharrt und den Kopf in den Sand steckt", sagt Doskozil.
Der SPÖ-Minister ist überzeugt, dass es möglich seine müsse, unter den EU-Mitgliedsstaaten eine Allianz für eine geordnete Rückführungspolitik zu bilden. Doskozil: "Alle Betroffenen sind Bündnispartner."
"Türkische Regierung nicht ernst zu nehmen"
Auf den Deal mit der Türkei dürfe man sich laut Doskozil nicht verlassen. "Die türkische Regierung ist nach den jüngsten Vorgängen, Ereignissen und Wortmeldungen doch nicht mehr ernst zu nehmen. Von einer Visaliberalisierung mit der Türkei sind wir weit entfernt, weil die Türkei weit von europäischen Standards entfernt ist." Europa müsse auch ohne einen Flüchtlingsdeal mit der Türkei "in der Lage sein, seine Grenzen zu schützen", so Doskozil.
Kommentar: Mit offenem Visier
Angela Merkel hat Europa verändert. Dieser Satz ist den Historikern schon einmal gesichert. Das Ende der Geschichte kennt hingegen keiner. Denn noch strömen weiter und Tag für Tag viele Hunderte Menschen aus Südasien, aus Vorderasien und immer mehr aus den Krisenregionen Afrikas zu uns.
Es besteht kein Zweifel, dass der Kontinent nach den Flüchtlingsströmen nie mehr so sein wird wie vor dem Herbst 2015, dem Beginn der großen Wanderung. Und das alles nur, weil sich Kanzlerin Merkel auf einem Egotrip befindet? Natürlich nicht.
Merkels Stärke ist vor allem die Schwäche der anderen Regierungschefs. Kein Präsident, kein Premier in Europa kann die deutsche Kanzlerin stoppen. Das liegt an den maroden Volkswirtschaften in den anderen europäischen Staaten, es mangelt an Ideen, es fehlen charismatische Führungspersönlichkeiten. Und es gibt keinen Zusammenhalt unter den EU-Mitgliedsstaaten.
Wenn jetzt Österreichs Verteidigungsminister die deutsche Bundeskanzlerin kritisiert, kann man schon ahnen, wie die meisten von Doskozils Regierungskollegen innerlich zusammenzucken. So nach dem unterwürfigen Grundsatz, dass man "die Angela" doch nicht angreifen dürfe. Hinter ihrem Rücken maulen sie schon, aber nie mit offenem Visier. Das war selten heimische Politikerart. Vor allem dann nicht, wenn es sich um jemand Mächtigen handelt.
Damit läuft Europa jedoch sehenden Auges schnurstracks ins Verderben.
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