Korruptionsvorwürfe, Regierungskrise, Omikron: Für Bundespräsident Alexander Van der Bellen (77) war 2021 ein schwieriges Jahr. Mit Conny Bischofberger spricht er über seine Rolle als politische Feuerwehr, die Arbeit der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, den legendären Satz „So sind wir nicht“ und das bevorstehende Weihnachtsfest.
Am Eingang zur Hofburg, dem Sitz des österreichischen Bundespräsidenten, steht ein Korb mit roten Äpfeln. Dieselben Äpfel hängen im Spiegelsaal an der fünf Meter hohen weihnachtlich geschmückten Nordmanntanne aus Breitenbach in Tirol. „Das hat fast etwas Sentimentales“, sagt der Tiroler, Österreicher und Europäer Alexander Van der Bellen, der seine Hündin „Juli“ davon abhalten muss, Kekse vom Baum zu stibitzen.
Österreichs „First Dog“ wurde vor zweieinhalb Jahren am Strand von Griechenland in einem Plastiksackerl gefunden. Für das „Krone“-Interview nimmt der Bundespräsident später im Jagdzimmer Platz, wo normalerweise Delegationsgespräche stattfinden. Ohne „Juli“.
Als Bürger kann man schon das Gefühl haben, den Überblick zu verlieren. Nicht mehr zu wissen, was da eigentlich los ist.
Alexander Van der Bellen
„Krone“: Herr Bundespräsident, diese Woche wurde bekannt, dass das Vertrauen in das politische System auf den tiefsten Punkt seit 2018 gefallen ist. Was ist Ihnen bei dieser Nachricht durch Ihren Kopf gegangen?
Alexander Van der Bellen: Dass es dafür eine ganze Reihe von Gründen geben muss. Da ist einmal die anhaltende Frustration über die Pandemie. Abgesehen davon, wie lästig das ist, hat fast jeder in seiner Familie oder im Bekanntenkreis schon Krankheits- und Todesfälle erlebt. Dann kommt die unsichere wirtschaftliche Situation dazu. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, dann wieder deutlich gefallen. Nicht jeder mag Homeoffice oder hat überhaupt ausreichend Platz dafür. Und dann gibt es noch die Regierungsumbildungen. Als Bürger kann man da schon das Gefühl haben, den Überblick zu verlieren. Nicht mehr zu wissen, was da eigentlich los ist.
Sie haben Zusammenarbeit, Stabilität und Transparenz gefordert. Glauben Sie, der neuen Regierung ist das voll und ganz bewusst, dass das jetzt ihre letzte Chance ist?
Natürlich ist niemand vor Fehlern gefeit, schon gar nicht in einer Situation, wo man in der Regierung - das gilt natürlich auch für die Landesregierungen - Entscheidungen treffen muss, oft ohne eine gesicherte, oder wie es heißt, evidenzbasierte Grundlage zu haben wie etwa jetzt bei Omikron. In der Ökonomie würde man sagen: Viele Entscheidungen müssen gefällt werden, obwohl man nicht einmal die Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse kennt. Da kann sich im Nachhinein leicht herausstellen, dass es gescheiter gewesen wäre, man hätte anders entschieden. Also ich beneide niemanden um diese Aufgabe.
Schaffen wir jetzt einen Neubeginn?
Die Chance auf einen Neubeginn besteht immer. Es braucht dazu harte, seriöse Arbeit und faktenbasierte Entscheidungen.
Glauben Sie, dass die Regierung Nehammer I bis zum Ende der Legislaturperiode halten wird?
Ich bin kein Prophet, aber ich finde, die Aussichten stehen ganz gut. Ich sehe im Moment keinen Grund, warum eine der beiden Regierungsfraktionen sich für Neuwahlen entscheiden sollte. Beide haben Interesse, dass eine gewisse Stabilität einkehrt, dass der neue Bundeskanzler - ja, wie soll ich sagen? - in der Öffentlichkeit Tritt fasst, wertgeschätzt wird. Und ich glaube, er hat gute Chancen.
Es gibt noch kein Urteil. Die Staatsanwaltschaft muss erst beweisen, dass die Vorwürfe für Anklagen ausreichen. So ist das in einem Rechtsstaat.
Alexander Van der Bellen
Wir haben die Skandale gar nicht erwähnt, die unser Land in Schach gehalten haben, allen voran die bekannt gewordenen Chats. 90 Prozent sind laut Umfrage des Sora-Instituts überzeugt, dass die österreichische Politik ein Korruptionsproblem hat. Glauben Sie das auch?
(Der Blick des Bundespräsidenten wird ernst.) - Im Englischen würde man sagen: „Judgement reserved“ - es gibt noch kein Gerichtsurteil. Die Staatsanwaltschaft muss erst beweisen, dass die Vorwürfe für Anklagen ausreichen, und das Gericht muss dann entscheiden. So ist das in einem Rechtsstaat. Dass in den Chats, jenseits des Strafrechts, Ausdrücke und Verhaltensweisen ans Tageslicht gekommen sind, die man nicht billigt, ist klar. Das ist nicht schön. Ein Urteil ist wohl in erst in ein, zwei Jahren zu erwarten.
Darf es so lange dauern? Man denke nur an den Karl-Heinz Grasser, der elf Jahre auf sein Urteil gewartet hat.
Es ist sehr unbefriedigend, dass manche Untersuchungen so lange dauern. Grasser ist besonders hervorstechend. Wir haben ähnliches bei der Eurofighter-Geschichte erlebt, die dann nach vielen Jahren eingestellt wurde. Die Staatsanwälte führen ins Treffen, dass sie zu wenig Personal haben. Aber da kann man sicher etwas verbessern, etwa indem eine große Causa wie ein Projekt gemanagt wird.
Ist der neuerliche Untersuchungsausschuss wichtig und richtig?
Es ist das gute Recht von Parlamentsfraktionen, solche Untersuchungsausschüsse einzurichten. Es gehört zu den Aufgaben des Parlaments, die Regierung zu kontrollieren.
So wie jeder verschicke ich SMS und Mails. Wichtige Gespräche führe ich hinter der Tapetentür der Hofburg.
Alexander Van der Bellen
Sie haben vorher die Chats angesprochen. Chatten Sie noch?
Lacht. - Natürlich, so wie jeder verschicke ich meine SMS und Mails.
Aber sind Sie vorsichtiger, seit so viele Inhalte bekannt geworden sind?
Wichtige Gespräche mit dem Kanzler, dem Vizekanzler oder Ministern führe ich hinter der Tapetentür der Hofburg. Das persönliche Gespräch ist mir wichtig.
In Österreich leben derzeit ein Kanzler und neun Ex-Kanzler, in Deutschland ein Kanzler und zwei Ex-Kanzler. Was sagt das über unser Land aus?
Vielleicht sind wir flexibler als die Deutschen. - Lacht. - Man soll trotz allem den Schmäh nicht verlieren. Aber jetzt im Ernst: Die Verfassungslage in der Bundesrepublik und in Österreich ist in dem Punkt sehr verschieden. Ein kleines Beispiel: Olaf Scholz musste mit seiner neuen Regierung erstmal eine Vertrauensabstimmung im Bundestag bestehen, er braucht dort die Mehrheit. In Österreich ist das nicht der Fall. In Österreich muss der Bundeskanzler vom Bundespräsidenten ernannt werden und fertig. Er kann aber jederzeit vom Parlament ein Misstrauensvotum erhalten. In Deutschland nicht ohne weiteres.
„So sind wir nicht“, haben Sie nach Ibiza gesagt, und dann ging es weiter mit den Krisen. Haben Sie sich vielleicht getäuscht und wir sind doch so?
Als Tatsache formuliert gebe ich zu, dass der Wunsch Vater des Gedankens war. Gemeint war natürlich: „Wir wollen nicht so sein.“
Die Stimmung im Land ist vor allem wegen der bevorstehenden Impfpflicht sehr aufgeheizt. Sind Sie ganz persönlich für eine Pflicht oder dürfen Sie gar nicht als Mensch antworten, sondern immer nur als Bundespräsident?
Jeder Bundespräsident, auch ich, muss sich immer seiner Rolle bewusst sein. Ich kann mit einem Gesetz zum Beispiel einverstanden sein oder auch nicht, ich kann meine Zweifel haben, aber wenn das Gesetz verfassungsmäßig zustande gekommen ist, werde ich es unterzeichnen - unabhängig davon, was meine persönliche Meinung dazu ist. Außer ich halte es in irgendeinem Punkt, das kann auch ein ganz kleiner Punkt sein, für eindeutig verfassungswidrig.
Also sagen Sie uns nicht Ihre ganz persönliche Meinung?
Bei der Impfpflicht ist wie in allen Pandemiefragen abzuwägen zwischen Freiheitsrechten und der Verpflichtung der Regierung, für Gesundheit bzw. die Abwendung von Krankheit und vorzeitigen Todesfällen zu sorgen. Solche Grundrechtskonflikte haben wir regelmäßig. Die Regierung, das Parlament, allenfalls der Verfassungsgerichtshof, müssen sie lösen. Es geht immer um die Frage, was ein nachvollziehbarer, begründbarer Kompromiss ist, der dann auch der Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof standhält. Insofern kann eine Impfpflicht gerechtfertigt sein.
FPÖ-Chef Herbert Kickl bezeichnet Österreich als totalitäres System, er spricht auf Corona-Demos, eine FPÖ-Abgeordnete hat Fake-News über Intensivstationen verbreitet. Warum zitieren Sie solche Politiker nicht in die Hofburg, wie die neuen Minister, die vor der Angelobung zu Ihnen kommen mussten?
Ich hatte über die Jahre gar nicht so wenig persönlichen Kontakt mit Herbert Kickl, vornehmlich zu der Zeit, als er Innenminister war. Ich kann ihn natürlich bitten, zu mir zu kommen, das würde er sicher auch tun, und ich kann ihm sagen, wo ich absolut nicht seiner Meinung bin. Dann geht er hinaus und wird, weil er es offenbar für richtig hält, weitermachen wie vorher. Der Bundespräsident kann zwar den Kanzler entlassen, interessanterweise aber einen Minister oder eine Ministerin nur auf Vorschlag des Bundeskanzlers. Und schon gar nicht kann er einem Parteiobmann oder Klubobmann in seiner Amtsführung etwas vorschreiben, geschweige denn ihn entlassen.
Haben Sie auch noch Kontakt zu Sebastian Kurz?
Ich habe ihn erst vor Kurzem gesehen.
Es gibt die Karikatur, da stehen mein Hund und ich vor dem Fenster. In der Sprechblase steht: Pfoah, des wird fad!
Alexander Van der Bellen
Dachten Sie, rückblickend gesehen, dass Ihre Amtszeit so abwechslungsreich sein würde? Sie haben 64 Minister in fünf Jahren angelobt.
Nein, niemand hat das gedacht. Es gibt die berühmte Karikatur von Michael Pammesberger im „Kurier“, anlässlich meiner Angelobung Anfang 2017. Da stehen mein Hund und ich vor dem Fenster in meinem Büro und in der Sprechblase steht: „Pfoah, des wird fad!“ - Lacht. - Fad war mir jedenfalls nicht.
Das einflussreiche Magazin „Politico“ hat Sie zu den wichtigsten 28 Persönlichkeiten Europas gewählt. Freut Sie so was?
Ja, das ist schmeichelhaft. Ich weiß zwar nicht, wie die auf die Idee kommen, es ist doch höchst ungewöhnlich, dass ich als Bundespräsident da mit hineingenommen werde, der nicht wie etwa Macron exekutiver Präsident ist. Es zeigt aber, dass die österreichische Verfassung dem österreichischen Bundespräsidenten mehr zugesteht als zum Beispiel Frank-Walter Steinmeier in Deutschland.
Ein Bundespräsident muss schnell handeln, wenn es brennt. Das hat er mit einem Feuerwehrmann gemeinsam.
Alexander Van der Bellen
Sie begründen es damit, dass Sie ein „political firefighter“ - eine politische Feuerwehr- waren und sind. Sehen Sie sich auch so?
Richtig daran ist, dass ein Bundespräsident in bestimmten Situationen schnell handeln muss, wenn es brennt. Das hat er vielleicht mit einem Feuerwehrmann gemeinsam.
Was wünschen Sie sich fürs neue Jahr?
Na ja, nicht ganz so viele Krisen. Das Virus wird leider nicht gänzlich verschwinden, diese Hoffnung habe ich aufgegeben. Aber ich wünsche mir, dass wir es weiter unter Kontrolle bringen, dass es unseren Alltag nur mehr unwesentlich bestimmt. Bleiben werden: Hände waschen, in bestimmten Situationen Masken tragen, Abstand halten. Ich wünsche mir, dass es mit der Wirtschaft und den Arbeitsplätzen aufwärts geht, dass die Gastro aufsperren kann, dass wir wieder Alltag leben können, wenn auch nicht ganz so wie 2019, dem letzten Jahr vor der Pandemie.
Werden wir je wieder ohne Masken, Impfungen und QR-Codes leben können?
Das hoffe ich. Aber dieses Virus - wir Tiroler sagen ja „der“ Virus - hat uns jetzt schon zweimal überrascht, zuerst mit der Delta-Variante und jetzt mit der Omikron-Variante. Ich hoffe, es hält keine weiteren Überraschungen mehr bereit.
2022 wird Ihr letztes Jahr sein. Und dann? Treten Sie noch einmal an?
Netter Versuch! - Lacht. - Ich habe mir das gerade neulich überlegt. Und bin zum Entschluss gekommen, dass es nun so eilig auch wieder nicht ist, zu sagen, wie ich mich entscheide. Die Wahl wird aller Voraussicht nach Anfang, Mitte Oktober 2022 sein, schätze ich. Also habe ich noch Zeit.
Wo ist eigentlich Ihr Hund?
Nebenan in meinem Büro. „Juli“ schläft auf ihrem Sessel. Wir können sie nachher noch besuchen.
Hat sie schon „Fanny“ kennengelernt?
Den Hund des Bundeskanzlers? Nein. Aber erst letzte Woche war Karoline Edtstadler mit „Struppi“ da, da haben sie sich freudig begrüßt.
Wie werden Sie Weihnachten verbringen?
Ich möchte ein paar Tage mit meiner Frau ausspannen, mit „Juli“ spazieren gehen und viel lesen. Ich habe mir einen Krimi von Veit Heinichen vorgenommen, außerdem das Buch von Natascha Strobl über radikalisierten Konservativismus und drei Bücher über die Habsburg-Dynastie aus anderen Blickwinkeln. Es ist kein Zufall, dass die beste Biografie über Maria Theresia von einer deutschen Professorin geschrieben wurde. Die Nicht-Österreicher haben einen neutraleren Blick, nicht getrübt von unserer a-priori-Verklärung.
Welches Buch hat Sie zuletzt fasziniert?
„Butcher’s Crossing“ von John Williams. Es ging um die sinnlose Tötung einer Bisonherde. Von Williams stammt auch „Augustus“, ein wundervoller Roman in Briefen.
In fünf Tagen ist Heiliger Abend, da wünschen sich die Menschen „Frohe Weihnachten“. Ist dieses Fest heuer wirklich ein frohes?
In unserer Familie schon. Wir haben im Moment auch im weiteren Bekanntenkreis keinen einzigen Krankheitsfall. Letztes Jahr um die Zeit waren eine ganze Reihe von Freunden an Covid erkrankt. Also können wir doch froh sein. Weihnachten ist ein guter Anlass, mal ein bisschen abzuschalten und miteinander anzustoßen.
Was ist Ihre früheste Erinnerung an dieses Fest?
Dass es immer ein Stress war. - Lacht. - Nicht für mich, aber für meine Eltern. Es ging immer darum, noch zeitgerecht den Christbaum zu kriegen. Aber nicht irgendeinen Baum. Er musste Zimmerhöhe haben und so dicht wie nur möglich sein. Motto: Man nimmt nicht irgendeinen, sondern man muss suchen, suchen, suchen. Und wenn er dann einmal dastand, dann begann die eigentliche Arbeit, das Aufhängen der Ketten aus vergoldeten Nüssen. Unten, bei den starken Ästen, kamen die Walnüsse hin, oben bei den dünneren Ästen die Haselnüsse. Lametta waren verboten. Die hat mein Vater verabscheut.
Geboren am 18. Jänner 1944 in Wien. Die Mutter ist gebürtige Estin, sein Vater gebürtiger Russe mit niederländischen Vorfahren. Nach der Oktoberrevolution müssen seine Eltern vor den Sowjets fliehen, zunächst nach Estland, dann nach Wien. Am Ende landen sie in Tirol. Van der Bellen studiert in Innsbruck Volkswirtschaft, geht dann nach Berlin und lehrt ab 1980 in Wien Volkswirtschaftslehre. Von 1997 bis 2008 ist er Bundessprecher der Grünen, 2012 bis 2015 Wiener Gemeinderat. Bundespräsident seit Jänner 2017, seine Amtszeit endet 2023. Van der Bellen, den Freunde „Sascha“ nennen, ist in zweiter Ehe mit Doris Schmidauer verheiratet, aus der ersten Ehe hat er zwei erwachsene Söhne.
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